Nicht mit Gewalt, sondern mit dem Wort
Philipp Melanchthon war ein Aufklärer - lange vor der Aufklärung. Einen Justizmord an Juden ließ er nicht auf sich beruhen
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
07.10.2010

Für Rabbi Josel von Rosheim war es ein Segen, was der Reformator da auf dem Frankfurter Bundestag im April 1539 tat. Philipp Melanchthon enthüllte gegenüber dem Kurfürsten von Brandenburg die wahren Hintergründe eines Judenprozesses unter der Regentschaft von dessen Vater, dem alten Kurfürsten. Etliche Juden waren 1510 der Hostienschändung bezichtigt worden. 36 wurden bei lebendigem Leibe verbrannt und zwei enthauptet. Zu Unrecht habe man die armen Juden getötet, teilte Melanchthon Kurfürst Joachim II. mit. Der wahre Hostiendieb, ein Christ, habe die Juden beschuldigt, um von seiner Tat abzulenken. Und der damalige Brandenburger Bischof habe über die Verleumdung aus einem Beichtgespräch erfahren. Den Justizmord verhinderte er dennoch nicht.

Seit der Reformation ging es Juden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation sogar noch schlechter als zuvor. Schuld daran waren vor allem die Anhänger Martin Luthers. Noch nach Kaiser Karls V. Sieg über die Protestanten im Schmalkaldischen Krieg von 1547 schrieb Josel verbittert über die deutsche Reformationsbewegung: "Eine Nation, die einen neuen Glauben errichtete mit aller Art Erleichterungen, um jedes Joch abzuwerfen, beabsichtigte, uns anzugreifen und durch viele bedrückende Dekrete und Verfolgungen die israelitische Nation zu vernichten, so dass sie aufhöre, ein Volk zu sein. Gott aber sah das Elend seines Volkes und sandte einen Engel, in der Form von barmherzigen Königen, die Kaiser Karlin Macht und Stärke gaben, die Feinde viele Male zu besiegen, ihre Bündnisse und Konspirationen zu vereiteln, sie zu demütigen."

In wenigen protestantischen Gebieten waren Juden überhaupt noch geduldet, so zum Beispiel in der Landgrafschaft Hessen. Doch auch dort verschlechterten sich die Bedingungen für sie. Eine hessische Judenordnung von 1539 verbot Juden Handel und Wucher sowie den Bau neuer Synagogen. Sie schloss Juden von öffentlichen Ämtern aus, ließ reiche Juden enteignen, verlangte ein einkommengestaffeltes Schutzgeld, verordnete Zwangsarbeit mit den allerniedrigsten Verrichtungen und verpflichtete zur Teilnahme an missionarischen Predigten. Den Juden, die diesen Bestimmungen nicht folgten, wurde Vertreibung oder gar die Todesstrafe angedroht.

Nun aber, nach Philipp Melanchthons geradlinigem Auftritt auf dem Frankfurter Bundestag, konnte Rabbi Josel beim Brandenburger Markgrafen vorsprechen. Und seine Bitten fanden Gehör: Er suchte dringend einen Zufluchtsort für seine Glaubensgenossen. Der Markgraf reagierte unverzüglich. Schon ab Ende Juni 1539, also nur zwei Monate später, wurde die gesamte Mark zu Handelszwecken wieder geöffnet. Und ab 1543 nahm Brandenburg wieder Juden auf.

Was Melanchthon bewog, gerade auf diesem Bundestag den Justizmord aufzudecken? Manche Historiker spekulieren, er habe den altgläubigen Brandenburger Bischof aus der Zeit vor der Reformati0n madig machen wollen. Nur ist das durch nichts zu belegen. Ebenso vorstellbar ist, dass er tatsächlich dem Rabbi den Weg für Gespräche mit dem Markgrafen ebnen wollte. Denn natürlich wusste Melanchthon um die Wirkung seiner Worte.

Am 19. April 2010 wird die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) mit einem großen Festakt in der Wittenberger Schlosskirche an Philipp Melanchthons 450. Todestag erinnern. Die Protestanten werden einen Aufklärer des 16. Jahrhunderts feiern. Er hat zahlreiche Schulen gegründet und Universitäten in ganz Europa reformiert. Mit diplomatischem Geschick führte er Friedensverhandlungen mit den Papsttreuen auf der einen und mit den Schweizer Reformierten auf der anderen Seite. Er formulierte dabei reformatorische Kernsätze und konnte die eigenen Glaubenslehren so gut auf den Punkt bringen, dass ihm selbst seine Gegner kaum widersprechen mochten. Melanchthon ist eine der ganz großen historischen Figuren des Protestantismus.

Seine denkwürdige Begegnung mit Josel von Rosheim in Frankfurt geriet in Vergessenheit. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten jüdische Historiker Hinweise auf sie in den Archiven. Um 1880 veröffentlichte der Rabbiner Markus Meir Lehmann einen historischen Roman über Rabbi Josel von Rosheim. Darin erwähnt er die Szene auf der Frankfurter Versammlung: ein protestantischer Geistlicher deckt vorm sächsischen Kurfürsten den Justizmord an den Juden auf. Die Enthüllung, so stellte sich Romanautor Lehmann die Begebenheit vor, habe Rabbi Josel aus der Patsche geholfen, da er sich gerade ein heftiges Wortgefecht mit dem Kurfürsten geliefert habe.

1898 publizierte der jüdische Gelehrte Ludwig Feilchenfeld Rabbi Josels Trostschrift aus dem 16. Jahrhundert, in der er seinen Glaubensgenossen von Melanchthons Auftritt berichtete. Fortan wurde diese Szene zum festen Bestandteil der jüdischen Geschichtsschreibung. Der Historiker Simon Dubnow, 1941 von den Nazis im Baltikum ermordet, erwähnt Melanchthons Auftritt in seiner 1927 erschienen "Weltgeschichte des jüdischen Volkes". Auch der von den Nazis 1933 aus dem Schuldienst entlassene Lehrer Eugen Wolbe (er starb 1938 im Alter von 65 Jahren) würdigt Melanchthons Auftritt in seiner "Geschichte der Juden in Berlin und in der Mark Brandenburg". Der Berliner Judaist Klaus Herrmann trug kürzlich in seiner Studie über "Melanchthon aus der Sicht des Judentums" diese Veröffentlichungen aus der jüdischen Historiographie vor dem Zweiten Weltkrieg zusammen.

In der protestantischen Geschichtsschreibung hat man von diesen Veröffentlichungen bislang kaum Notiz genommen. Bis in die 1940er Jahre berief sich mancher Protestant lieber auf Martin Luthers antijüdische Spätschriften "Von den Jüden und ihren Lügen" und "Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi" (beide von 1543), so klagten damals vor allem jüdische Historiker. Umgekehrt versuchte die nazistische Ludendorff-Bewegung Melanchthon als "Rassejuden" und "Judennachkommen" zu diffamieren. Und in Bretten, der Ge-Burkhard burtsstadt des Reformators, gab es Versuche, das Melanchthonhaus aus diesem Grund zu schließen.

Gewiss, Melanchthon war kein ausgesprochener Judenfreund wie sein Großonkel Johannes Reuchlin, der bei Rabbinern in die Lehre ging, um Hebräisch zu lernen und die jüdische Mystik, die Kabbala, zu studieren. Auch Melanchthon hielt das Studium der hebräischen Sprache zwar für nützlich. Die Juden waren für ihn aber ein von Gott verworfenes Volk, weil sie nicht an Christus glaubten. Er soll sogar persönlich Luthers antijüdische Hetzschriften an den Landgrafen Philipp von Hessen übersandt haben.

Andererseits war es damals durchaus üblich, seinen Feinden alles nur Erdenkliche an den Hals zu wünschen. Wie Protestanten Juden aufs Übelste beschimpften, so hoffte auch umgekehrt Rabbi Josel, der Judenfeind Martin Luther möge dermaleinst mit "Seele und Leib in die Gehinnom, die Hölle, eingebunden" sein.

Auf Philipp Melanchthon konnten Juden dagegen zählen, wenn es drauf ankam. Zum einen, weil er ein friedlicher Zeitgenosse war. Für den gelehrten Humanisten galt bis an sein Lebensende der Merkspruch der frühen Reformationszeit: "Non vi sed verbo" - zu Deutsch: "Nicht mit Gewalt, sondern mit dem Wort" solle man seine Feinde bekämpfen.

Überdies dachte Melanchthon in Rechtsfragen auch sehr modern: dass das Recht über seinen persönlichen Empfindungen stand. Und dass es für alle Menschen gleichermaßen gilt. Auch Juden sollten ein Anrecht auf faire Gerichtsprozesse haben. Rabbi Josel schätzte diese Haltung sehr. "Hochgelehrt" sei Dr. Philippus Melanchthon, lobte er. Für den Rabbi war er gar eines der wahrhaft "großen Heupter" der Reformation.

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