Die Erwachsenen witzelten über Pfarrer Böttcher. Er war immer ein wenig zerstreut, ja geistesabwesend, wenn man ihm begegnete. und er sagte seltsame Sätze wie: "Willkommmen in eures Vaters Haus!" Eine Geschichte aus der Kirche
Lena Uphoff
07.10.2010

Beziehungen zu Mauern dauern. Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, Steine seien tote Materie, selbst dann, wenn sie nach allen Regeln der Kunst aufeinandergeschichtet und mit Mörtel zusammengefügt worden sind. Aber man kann auch darauf beharren, ein Individuum sei ein genetischer Zufallscocktail und das Universum halt eine Kombination diverser chemischer Elemente.

Ich habe zu einigen Gebäuden, in denen ich gelebt oder gearbeitet habe, in die ich als Kind musste oder durfte, besondere Beziehungen. Sie dauern an, obwohl ich die Gemäuer zum guten Teil schon seit Jahren nicht mehr gesehen, geschweige denn betreten habe. In manche zieht mich auch nichts. Würden sie nicht in meinen Träumen erscheinen, wäre ich erfreut und würde vermutlich - ganz genau weiß ich es nicht - wenig vermissen. Zu diesem Typ Gebäude zählen meine Schulen. Vor allem mein ehemaliges Gymnasium, gebaut 1910. Mit seinen langen, düsteren Gängen, den zwar hohen, in meiner Erinnerung aber ziemlich schrappigen Klassenräumen, dem aufdringlichen Geruch von Bohnerwachs und scharfen Reinigungsmitteln taucht es in Träumen auf, die wenig dazu beitragen, erquickt und ausgeruht zu erwachen. Ich renne nachts durch die Gänge, verirre mich, treffe grundsätzlich nur die am wenigsten sympathischen Lehrer und Mitschüler und komme immer zu spät. Zum Sport, zu Klassenarbeiten. Schulen waren "auswärts", nicht zu Hause. Daran hat sich auch mehr als dreißig Jahre später nichts geändert.

Ganz anders verhält es sich mit der Kreuzkirche. Kaum jemand käme auf die Idee, diesen spröden Ziegelbau aus den späten fünfziger Jahren ein Gotteshaus zu nennen. Lediglich der Turm mit dem Satteldach, dem Glockenstuhl und der großen Uhr wies auf den Zweck hin, dem dieses Gebäude gewidmet war. Die Halle selbst hätte von Aufriss, Gestalt und Format ebenso gut eine Sporthalle oder die Liegenschaft eines Gewerbebetriebes sein können. Aber sie war "unser". Und dafür war zuallererst der aus unserer Sicht schon ziemlich alte Pfarrer Böttcher verantwortlich.

Wie hieß er eigentlich mit Vornamen? Hätte man uns damals danach gefragt, wir hätten spontan "Pfarrer" geantwortet. Pfarrer Böttcher nannte uns "meine lieben jungen Freunde", wenn er uns begegnete, und das war - man muss es heute ja immer gleich dazusagen - ohne jede Anzüglichkeit, ohne den leisesten Hauch von Anbiederung. Pfarrer Böttcher war mit Frau Pfarrer verheiratet und hatte mehrere erwachsene Kinder. Er hielt evangelischen Religionsunterricht und pflichtbewusst Konfirmandenstunde. Aber eigentlich machte er sich nichts aus Jugendlichen und Kindern. Er wirkte fast immer ein wenig zerstreut, ja geistesabwesend, wenn wir ihm auf dem Platz zwischen Kirche und Pfarrhaus oder anderswo im Viertel begegneten, während er gerade auf dem Wege zu einem kranken Gemeindeglied oder dergleichen war. Natürlich - wir hatten es, ob evangelisch oder katholisch, nicht anders gelernt - grüßten wir ihn, und zwar zuerst: "Grüß Gott, Herr Pfarrer", und er antwortete dann eben mit: "Seid ebenfalls gegrüßt, meine lieben jungen Freunde", lächelte uns kurz zu und ließ seinen Blick sofort wieder dem Horizont entgegengleiten.

Die Erwachsenen witzelten über diesen sonderlich scheinenden Menschen. Bestenfalls sagten sie mit einem leisen Grinsen: "Er wird wieder an seiner Predigt arbeiten." Dass uns Pfarrer Böttcher kaum zur Kenntnis nahm - auch seine Konfirmanden berichteten nichts anderes - tat uns nicht weh. Er strahlte Güte aus. Und er öffnete seine Kirche für uns.

Wir trafen uns fast jeden Mittag zum Fußballspielen auf der Streuobstwiese gegenüber dem Kirchplatz. Einmal, als wir intensiv kickten, erwischte uns von der einen auf die andere Sekunde ein heftiger Wolkenbruch inklusive Gewitter. Wir, ein Dutzend Kerle zwischen sechs und zwölf, flüchteten unter den größten Baum. Zwischen den Donnerschlägen hörten wir eine Männerstimme "Hallo! " rufen. Pfarrer Böttcher stand in der Kirchentür und winkte uns zu sich. Wir rannten los.

"Das ist gefährlich, was ihr da tut, meine lieben jungen Freunde", sagte Böttcher, während er uns in die Kirche schob, "kommt hier herein in die feste Burg des Herrn. Da wird euch nimmermehr ein Blitz treffen." Wir fanden seine Sprache schon ein wenig seltsam, "durch den Wind", wie mein Kumpel Matthias meinte. Sein gütiges Lächeln, seine ehrliche Sorge wogen indes schwerer.

Böttcher schleppte Handtücher aus der Sakristei herbei, hieß uns Platz nehmen und richtete noch einmal das Wort an uns: "Wisset, meine lieben jungen Freunde, dies ist Gottes Haus und damit euer Haus. Ihr seid hier immer willkommen. Ob nass oder schmutzig, ob herausgeputzt und schön gekleidet. Erst nach Eintritt der Dunkelheit schließen wir ab, und selbst das nicht immer. Wenn es also wieder einmal gewittert, kommt einfach rein und fühlt euch zu Hause! Aber nicht nur dann. Ihr müsst keinen Grund haben, um hier einzutreten. Nie! Wenn ihr da seid, seid ihr da, und der Herr heißt euch willkommen, denn ihr seid Kinder Gottes." Wir waren ein bunter Haufen. Ein paar kamen aus katholischen Familien, Michaels Leute gehörten zu den Adventisten, Marcos Vater gehörte dem Vorstand der Baptistengemeinde auf der anderen Seite des Berges an. Leos und Rolfs Eltern hatte Pater Rupert, der katholische Religionslehrer, als "Heiden" bezeichnet oder als "Gottlose". Auch ich war ein "Katholischer". Ich fasste mir ein Herz und fragte: "Gilt das auch für uns? Also, ich meine ... wir sind ja ..." "Das gilt für alle", unterbrach mich Böttcher, "dieses Haus ist das eure, wie es das der Gemeinde Christi ist. Und alle, die hier eintreten, sind willkommen. Und wenn sie Böses im Schilde führen? Ja, selbst dann sind sie willkommen, meine jungen Freunde. Nicht der Gemeinde willkommen, nicht mir, aber dem Herrn. Denn wer weiß, ob einer, der da kommt und Böses beabsichtigt, nicht erweckt wird, gerade hier, gerade zu der Stunde, da ihn andere Absicht leitet? Könnte er nicht hier erleben, was der böse Saulus auf dem Wege nach Damaskus erfuhr?"

Böttcher redete - und zwar längst nicht mehr zu uns. Er zitierte Augustinus und Luther, er ging vor den Bänken auf und ab, wurde leiser und leiser, verfiel in eine Art theologisches Selbstgespräch. Wir saßen da und trockneten und wagten nicht, ihn zu stören. Bis es Matthias, dessen Mutter in der Kreuzgemeinde wohlbekannt und meiner Erinnerung nach auch aktives Glied war, nicht mehr aushielt und sich sehr hörbar räusperte. Böttcher erschrak und unterbrach seinen Monolog, "... kurzum, wann immer einer oder eine von euch den Weg in diese Kirche sucht, so ist es die Seine. Willkommen! "

Aus purer Neugier habe ich Böttchers Einladung in den kommenden Wochen wörtlich genommen. Ich flüchtete in die Kreuzkirche nach einem heftigen Streit mit meinen Eltern. Oder ich brachte ein Buch mit oder den "kicker" und las darin. Ich streifte durch den schmucklosen Raum, blieb vor dem Altar stehen, auf dem die aufgeschlagene Bibel lag, und begann, den Text zu lesen. Einmal war aufgeblättert Daniel 9,1 aus dem Alten Testament, ich weiß es noch heute: "Im ersten Jahr des Darius, des Sohnes des Ahasveros aus dem Geschlecht der Meder, der zum König über das Reich der Chaldäer gemacht worden war..." Diese Namen beflügelten meine Fantasie. Ich stand in der Kreuzkirche und spielte mit dem Gedanken, mich künftig "Ahasveros" zu nennen.

Ich gewann sie lieb, die schmucklose rechteckige Turnhalle Gottes und den Pfarrer obendrein, dessen neuesten Spitznamen "Die Zwei" aus dem Fernsehen kreiert hatten: Euer Merkwürden.

Auch meinen Fußballkumpels ging es so. Wenn wir ordentlich gekickt hatten bis in die Dämmerung kühler Herbstabende, aber noch ein bisschen miteinander quatschen wollten, hockten wir uns in die Kirche. Frau Brunner, die den Putzdienst leitete, stöberte uns an einem dieser Abende auf und war sichtlich wenig begeistert von unserer Präsenz. "Wa macht ihr do?", fragte sie misstrauisch in breitem Alemannisch, "ihr seid jo ganz drecket! Und i derfs widder butze! " Der Pfarrer Böttcher habe es uns erlaubt, sagten wir schüchtern, ja er habe uns geradezu aufgefordert, hierherzukommen, wie wir gerade waren, auch schmutzig und verschwitzt. "Und des soll i euch glaube?", zweifelte die Brunnerin und fuhr mehr an sich als an uns gerichtet fort: "Aber es sieht ihm jo ähnlich, unserm Pfarr. Denkt it dra, dass mir des butze müsse." Und an uns gewandt: "I werd ihn froge, des glaubet sicher! Und wehe, es stimmt it! "

Genau in diesem Augenblick trat Pfarrer Böttcher aus der Sakristei. Schon sein freudiges Lächeln reichte der Brunnerin. Und als er uns dann noch begrüßte, "Herzlich willkommen in eures Vaters Haus, liebe junge Freunde! ", machte sich die wackere Sachwalterin der Hygiene vor sich hinbrummelnd und heftig mit dem Schrubber gegen die Bänke stoßend an die Arbeit. Es kam die Zeit der Pubertät und der Rockmusik. Wir träumten von einer zünftigen Fete mit aufgedrehten Lautsprechern. Led Zeppelin sollte ertönen oder Deep Purple oder Iron Butterfly. In keinem unserer Elternhäuser war so etwas möglich. Entweder gab es keine geeigneten Kellerräume für ordentliche Partys oder zu strenge Eltern. In unserer Not beschlossen wir, Pfarrer Böttcher zu fragen. Matthias übernahm das. Der wusste von seiner Mama, dass es unter der Kreuzkirche einen riesigen, dunklen, ungenutzten Keller gab. Pfarrer Böttcher, der mit Sicherheit weder Led Zeppelin noch Iron Butterfly kannte und Deep Purple wahrscheinlich für eine liturgische Farbe hielt, sagte sofort Ja. Und als Matthias erklärte, es sei wahrscheinlich keine Musik nach seinem Geschmack und es könnte vielleicht auch ein bisschen laut werden, meinte er nur: "Ich weiß, dass ich mich auf euch verlassen kann, liebe junge Freunde. Ihr werdet um zehn Uhr prüfen, ob die Lautstärke der Ordnung Rechnung trägt, auf dass keiner unserer Nachbarn gestört werde und in seiner Not die Polizei herbeirufe. Ich selbst werde mit meiner Frau wenig hören, da unser Wohnzimmer auf der anderen Seite liegt. Wir hören dort nicht einmal, wenn Kantor Trippel aus unserer guten Orgel fortissimo herausholt, was die Pfeifen hergeben." Das war die Geburtsstunde des legendären Church Club.

Wir haben Böttcher nicht enttäuscht. Zumindest nicht in Sachen Lautstärke. Während wir die Musik von Steppenwolf aus dem Film "Easy Rider" hörten, mochten sich zwei von uns allerdings nicht verkneifen, einen kleinen Joint zu drehen und ihn herumzugeben. Wir dimmten die Beleuchtung, das heißt: Wir drehten die hellen Glühbirnen raus und ersetzten sie durch zwei UV-Birnen und eine rote. Es lief "The Pusher" und wir tanzten Stehblues - ich mit Andrea aus der 9b. Dann ging die Tür auf und eine Taschenlampe blitzte auf. Irgendeiner von uns hatte sofort den Plattenspieler angehalten. In die Stille hinein erklang freundlich wie immer Pfarrer Böttchers Stimme: "Einen guten Abend, meine lieben jungen Freunde. Ich sehe, euch geht es gut. Das freut mich. Tja, lasst euch nicht weiter stören." Er schnupperte, schnupperte hörbar ein zweites Mal: "Welch wundersamer Duft! Sehr eigentümlich. Darf ich euch nur bitten, nachher die Räucherstäbchen sicher zu löschen, wenn ihr die Räume verlasst. Noch viel Vergnügen, und verzeiht die Störung! "

Sprach es und verließ uns. Als ich beim Abitreffen vor drei Jahren mit Matthias plauderte, kamen wir auf Pfarrer Böttcher und diesen Abend zu sprechen.

Wir waren uns einig: Böttcher wusste, dass das Cannabisgeruch und keine Räucherstäbchen waren. Er wollte uns vertrauen. Zehnmal mindestens feierten wir im Church Club. Es ging immer gut, obwohl es manchmal knapp war. Zum Beispiel als Markus mit seiner Kreidler-RS-Gang auftauchte und eine Schlägerei mit uns Kirchenweicheiern anzetteln wollte. Aber Matthias und ich machten es wie Böttcher. Wir baten die Jungs mit ihrem sogenannten Todesblick herein und boten ihnen was zu trinken an. Damit hatten sie nicht gerechnet. Nach anfänglicher Nervosität auf beiden Seiten verlief der Abend ganz okay. Dann befahl Markus seinem Trupp den Aufbruch, weil es bei uns keinen Whiskey gab. "Ganz nett hier", brummte er, "wenn euch jemand dumm kommt, meldet euch. Wir machen sie fertig! " - krachend schlug er mir auf die Schulter.

Zwei Jahre später ging Pfarrer Böttcher in den Ruhestand. Wir überreichten ihm zum Abschied einen riesigen Zwetschenkuchen, auf den wir mit Sahne "Von Ihren jungen Freunden" gesprüht hatten. Sein Nachfolger kümmerte sich sehr um die Jugendarbeit, war persönlich engagiert, "ein ganz Progressiver", hieß es. Wir sollten ihn duzen, sollten Norbert zu ihm sagen. Wir wollten ihm das nicht abschlagen. Als er im Church Club "ein wenig mitrockte", fanden wir das eher nervig. Ein Joint? Das ging "natürlich gar nicht". Und "spätestens um halb elf ist Schluss! " Und: "Oben, unser Kirchenraum, ist für euch natürlich tabu. Fete nur hier unten, klar?" Klar. Tschuldigung. Klar, Norbert.

Wir blieben einfach weg.

Wenn ich, was selten vorkommt, in meine Heimatstadt fahre und den Turm der noch immer wenig ansehnlichen Kreuzkirche erblicke, höre ich Böttchers Stimme sagen: "Meine lieben jungen Freunde." Er ist sicher längst tot. Er muss circa fünfzig Jahre älter gewesen sein als wir. Beim letzten Besuch in der Stadt habe ich spontan auf dem Kirchplatz geparkt und bin zur Kirchentür gegangen. "Unser Haus" war leider abgeschlossen. Ich hab's nicht glauben wollen und noch mal an der Klinke gerüttelt. "Leider zu", sagte eine Frauenstimme hinter meinem Rücken. Ich drehte mich um. "Wir müssen leider abschließen. Im vergangenen Jahr waren irgendwelche Jugendlichen hier drin und haben Party gefeiert. Unangemeldet. Saßen mit ihren Playern da drin, machten Hip-Hop-Musik. Wäre ja nicht so schlimm gewesen", erzählte die smarte Frau Mitte vierzig weiter, "aber leider ging eine der beiden Taufamphoren dabei zu Bruch. Da hat der Kirchenvorstand beschlossen, die Kirche nur noch zu besonderen Zeiten zu öffnen."

Ich schwieg. "Oh", sagte die Frau, "ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich heiße Zahn und bin hier die Pfarrerin." Auch ich stellte mich vor. Ich sah sie an. Dann fragte ich: "Kennen Sie Pfarrer Böttcher?" "Nicht persönlich. Aber ich weiß, dass er mal in der Kreuzkirche tätig war. Aber das muss fast vierzig Jahre her sein." - "So ist es, liebe junge Freundin", sagte ich zu der verdatterten Frau Zahn, verabschiedete mich und stieg in mein Auto.

Manchmal träume ich vom Church Club, von "The Pusher", "Born to Be Wild" und "Whole Lotta Love", und manchmal von der leeren Kreuzkirche an irgendeinem Nachmittag. Ich fühle mich wohl. Irgendjemand sagt: Willkommen daheim, lieber junger Freund! Ich widerspreche nicht. Obwohl ich nicht mehr jung bin. Oder?

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