Bernd Roselieb
Ländlich sittlich oder schick urban?
Ein Gespräch aus dem chrismon-Archiv mit dem gerade verstorbenen Architekten Albert Speer und Bischof Martin Hein über Nähe im Dorf statt Anonymität in der Großstadt
Tim Wegner
Tim Wegner
07.10.2010

Herr Speer, könnten Sie sich vorstellen, in Korbach zu leben, einer hessischen Kleinstadt?

Albert Speer: Sicher! Meine Urlaube verbringe ich in Oberbayern, in einem Dorf bei Murnau. Da stehen vier Bauernhäuser, ein paar Einfamilienhäuser und mein bayerisch-japanisches Holzhaus. Aber ich lebe genauso gerne in Frankfurt am Main.

Bischof Hein, würden Sie in eine Frankfurter Hochhauswohnung ziehen?

Martin Hein: Würde ich, das hat etwas mit meiner Liebe zu dieser Stadt zu tun. Ich habe auch ein paar Jahre mitten in Kassel gewohnt - von mir aus brauchen es keine Blumen sein, wenn es guter Beton ist... imErnst: Ich bin ein Stadtmensch.

Der alte Gegensatz Stadt - Land, hässlich - schön, modern - veraltet - stimmt der nicht mehr?

Hein: Ob man auf dem Dorf wohnt oder in der Stadt: Was man zum Leben braucht, ist identisch. Die Welt ist doch jetzt das Global Village: Village, das beschreibt Überschaubarkeit und enge soziale Kontakte. Aber inzwischen ist auch jedes Village global, sofern man einen Telefon- und Internetanschluss hat. Da können Sie sich mit drei Mausklicks nach China oder sonst wohin begeben. Man ist nicht mehr abhängig vom Wohnort.

Wie ist denn der Trend - raus aufs Land oder in die Stadt?

Speer: In den nächsten Jahren oder Jahrzehnten: zurück in die Stadt. Ob das Korbach ist oder Frankfurt - jedenfalls in eine städtische Atmosphäre. Im Moment sind die Lebensbedingungen zwar überall fast gleich. Aber das wird sich ändern. Weil die Gesellschaft nicht mehr überall alle Rahmenbedingungen zu Verfügung stellen kann. Infrastruktur, Kultureinrichtungen, Kirche.

Und die romantischen Träume vom Haus im Grünen?

Speer: Romantik? Schon heute sinken die Immobilienpreise in entfernten Regionen. In zehn Jahren sind die Häuser fast nichts mehr wert, weil die nächste Generation dort nicht leben will.

Hein: Die Leute ziehen dahin, wo sie Arbeit haben. Raumplanung funktioniert nur, wenn sich Wirtschaftsunternehmen ansiedeln. Das geht aber nicht von heute auf morgen. Hinzu kommt: Das Landleben wird gefährlicher. Die ärztliche Versorgung wird schlechter, trotz der Ansiedlungsprämien für Allgemeinärzte in manche Gegenden von Nordhessen, Südniedersachsen, Thüringen wollen die nicht hin. Das Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben, ist auf dem Land größer, obwohl das Landleben eigentlich gesünder ist...

Speer: . . . aber es dauert immer länger, bis der Arzt kommt!

Hein: Noch ein Grund, warum das Haus im Grünen an Wert verliert: Die Leute ziehen im Alter in die Stadt. Dort kann man sich ohne Auto fortbewegen, Ärzte, Apotheken, Geschäfte sind besser erreichbar. In Kassel etwa sinkt die Einwohnerzahl nicht, aber 30 Kilometer nördlich und östlich beginnt die Wohnbrache.

Was kann man dagegen tun?

Hein: Als Bürgermeister würde ich verhindern, dass die Leute sich immer weiter an den Dorfrändern ansiedeln. Die Dorfkerne veröden zusehends. In der Mitte verfallende Bauernhöfe und kaum Leben - aber Einfamilienhäuser an den Rändern.

Speer: Das liegt auch an den Grundbesitzverhältnissen. Diejenigen, die größere Gebäude im Dorf besitzen, haben überzogene Preisvorstellungen. Sie verkaufen nicht, es passiert nichts, und außen rum geht's weiter. Aber nicht mehr lange, in den nächsten 25 Jahren geht die Bevölkerung von 80 auf 60 Millionen zurück.

Es gibt ländliche Gegenden, die absterben...

Speer: . . . aber es wird Menschen geben, die trotzdem dort wohnen bleiben, die sich mit weniger Zivilisation zufriedengeben und ihren eigenen Brunnen bohren. Die in Kauf nehmen, dass es den Krämerladen nicht mehr gibt.

Hein: Ich weiß, dass es auf Dauer sehr teuer ist, die Infrastruktur aus Frischwasser und Abwasser aufrechtzuerhalten. Und was es bedeutet, wenn der Landrat sagt, irgendwann werden wir das kappen müssen. Wir als Kirche werden hier eine kollektive Trauerseelsorge machen müssen: für diejenigen, die kein Abitur haben und nicht zu den Mobilen oder Fitten gehören, die irgendwo anders studieren und nur in den Werra-Meißner-Kreis zurückkehren, wenn das Kind getauft werden soll, aber ansonsten in Württemberg oder im Raum München leben.

Was wird mit den verfallenden Kirchen?

Hein: Die wären ein Zeichen dafür, dass es in solchen Orten keine Zukunft mehr gibt. Es bilden sich aber in vielen Dörfern Fördervereine, Menschen, die oft gar keine Kirchenmitglieder sind, engagieren sich, sammeln Geld, helfen bei der Sanierung.

Leben auf dem Land die kirchlicheren Leute?

Hein: Das Christentum war historisch gesehen...

Speer: . . . eine Stadtreligion.

Hein: Der Städter war der Urbanus. Der Dörfler der Paganus auch ein Wort für Heide. Erst im 18., 19. Jahrhundert verlagerte sich das. Die Landbewohner sind nicht frömmer. Aber sie wissen wohl stärker, was ihnen die Kirche bedeutet.

Und was bedeutet sie ihnen?

Hein: Im Zweifel ist es überall das Gleiche: Wenn ich die Kirche brauche, muss sie da sein. Deshalb ist es wichtig, dass sich die Kirche nicht aus den Flächen zurückzieht. Die Leute sollen wissen, wie der Pfarrer heißt und wie er aussieht.

Ist es nicht wie beim Arzt - auch der Landpfarrer stirbt aus?

Hein: Ein Pfarramt muss dann vielleicht fünf Kirchen betreuen. Sonst hieße das Signal für die Bevölkerung: Ihr gebt uns auf! Vielerorts, wo es um die Zusammenlegung von Pfarrstellen geht, gibt es Proteste. 200 Demonstranten mit Plakaten "Wir sind Kirche" - in einem Dorf mit 500 Einwohnern. Darüber muss man froh sein, so viel kriegt man in der Stadt nicht auf die Beine.

Kann man unbegrenzt in den Erhalt von Kirchen investieren?

Hein: Leider nein. Aber wir sollten Zeit und Geld nutzen und renovieren, solange es geht - wenn die Kirche schön ist, kommen mehr. Ein schlechtes Beispiel haben wir im Wintersportort Willingen erlebt, da war die Dorfkirche zu klein geworden. Sie wurde erst Heimatmuseum, dann zur Kneipe "Don Camillo", an der Kanzel die Bierhähne - das ist jenseits der Schmerzgrenze. Es gibt aber auch gute Umnutzungen, zum Beispiel als Kulturzentren oder Dorfgemeinschaftshäuser.

Speer: Gemeinschaft ist wichtig! Als Architekten haben wir nach dem Krieg den Fehler gemacht, in Neubausiedlungen irgendwo die Kirchen hinzustellen, irgendwo das Gemeindehaus, irgendwo den Kindergarten, die Schule noch woanders. Klar, dass daraus keine Gemeinschaft entstehen kann. Wir sanieren gerade die Heinrich-Lübke-Siedlung in Frankfurt, Ende der 70er Jahre gebaut. Auch damals haben alle von sozialer Kontrolle geredet, dass man aus dem Fenster die Kinder spielen sehen muss. Heute stellen wir fest, dass die Eingänge dieser Häuser so idiotisch liegen dass überhaupt kein Kennenlernen, kein gegenseitiges Grüßen möglich ist! Warum man das so gemacht hat, weiß keiner mehr.

Hein: Es gibt aber Menschen, die ziehen in die Stadt, um sich bewusst dieser sozialen Kontrolle zu entziehen. Stadtluft macht frei! Nicht alle wollen das Gleiche. Vielleicht geht es so: das Dorf in die Stadt verlagern. Wie in Berlin zum Beispiel, das in überschaubare Kieze aufgeteilt ist.

Speer: Das ist unser Thema: unterschiedliche Stadtteile formen mit unterschiedlichen Charakteren. Stadtviertel mit eigener Identität, Architektur, sozialer Struktur. Und eigenständiger Verwaltung. Im Prinzip ist das auch die Lösung für die Megastädte.

Hein: Für große Städte gibt es Masterpläne, warum nicht auch für den ländlichen Bereich?

Speer: Wir machen gerade einen für Traben-Trarbach. Da ist ein junger Bürgermeister, der wissen will, wie sein Städtchen in 20 Jahren aussehen kann. Von was leben wir dann? Wer wohnt hier? Sind das nur noch alte Leute, und was müssen wir tun, um das zu verhindern? Leider geschieht das zu selten. Genauso wie in den größeren Kommunen das Thema demografischer Wandel immer nur in Sonntagsreden auftaucht.

Was müssten wir heute schon tun?

Speer: Die Lebensqualität verbessern! Wir haben vor einigen Jahren in Duisburg eine Studie gemacht. Die Stadt hatte 20 Prozent ihrer Einwohner verloren, und es ging weiter abwärts. Selbstverständlich gab es auch Stadtteile, die prosperierten. Das lag am Einkommen, an der Infrastruktur, an der Kirche. Nur: Verallgemeinern kann man das nicht, jeder Ort ist anders.

Für Köln gibt es einen Masterplan, es scheint, hier tut sich nix.

 Speer:  Das Gefühl ist nicht ganz falsch. Aber die Stadt Köln hat mit der Planung begonnen, ich bin daran beteiligt. Die Finanzkrise ist da auch ein Hindernis.

 Wie kann man eine Stadt, die total verbaut ist, verschönern? 

Speer: Man kann das nicht anordnen, man kann nur Überzeugungsarbeit leisten. In Köln etwa wollen sich Eigentümergemeinschaften in der Innenstadt ihre eigene Wohnwelt bauen. Das ist richtig! Aber es braucht immer persönliche Initiativen.

Hein: Von allein verändert sich nichts, es muss wohl auch ein gewisser Leidensdruck spürbar werden. Erst dann sagen sich die Leute: Jetzt müssen wir was tun.

Sie tun auch oft was, aber dann heißt es: Kindergärten oder Supermärkte gerne, aber bitte nicht in meiner Nachbarschaft. Ist Bürgerbeteiligung gut oder schlecht?

Speer: Sie ist in jedem Fall gut. Es ist aber auch eine Frage der Kommunikationskultur: Die Gegner nehmen überhand, und die Befürworter sagen, "lasst sie doch reden", und engagieren sich nicht. Das ist jetzt in Garmisch passiert: Die Mehrheit der Bevölkerung ist für die Olympischen Spiele, zehn oder 15 Bauern sagen, "mir san dagegen", und machen den Wirbel. In der Presse stand nur, was die Bauern erzählen.

Denen, die schreien, wird hinterhergeguckt. Und dann? 

Speer: Selber schreien! Man muss nur gut vorbereiten - so haben wir es in München mit der Allianz-Arena gemacht: Wir rieten dem Oberbürgermeister Christian Ude, nicht darauf zu warten, bis irgendwelche Bürgerinitiativen das Vorhaben kaputt machen, sondern den Bürgerentscheid selber zu initiieren. Wir haben Wahlkampf geführt, über 40 Prozent der Münchner haben abgestimmt und über 65 Prozent waren dafür.

Hein: Bürgerbeteiligung ist wichtig. Nur: Man muss stadtplanerisch und kommunalpolitisch den Mut haben, die kühnen Dinge auch zu wollen. Deutsche Innenstädte sind völlig gesichtslos. Hamburg: Mönckebergstraße, Berlin: Ku'damm, Frankfurter Zeil: überall Billigketten, alles wirkt ramschig. Kleine, inhabergeführte Läden schließen, selbst in guten Lagen. Bin ich in Italien, sehe ich Geschäfte mit Spezialitäten, skurrilen, kuriosen Waren...

Speer: . . . ehrlich gesagt: Die Italiener kriegen es auch nicht hin, die Spanier auch nicht: In touristischen Gegenden - ja. Aber in den Vorstädten sieht es genauso trostlos aus wie bei uns.

Warum ist das so?

Speer: Es handelt sich überwiegend um Bauten, die nicht von Architekten geplant werden; Immobilien- oder Wohnungsbaugesellschaften stellen Gebäude hin und vermieten sie, ohne darüber nachzudenken, wie das in 20 oder 30 Jahren wirkt. Früher sahen die Städte unterschiedlich aus, weil man regionales Baumaterial nutzen musste: Sandsteinhäuser, wo es Sandstein gab. Fachwerkhäuser, wo viele Wälder waren.

Und warum gibt es überall nur noch Apollo-Optik und H&M?

Speer: Es ist unsere wirtschaftliche und gesellschaftliche Struktur, die das zulässt, die so sehr auf "billig" losgeht. Daran können die Kommunen auch nichts ändern. Andererseits kann man verstehen, dass die Leute ihre Brillen günstig kaufen wollen.

Hein: Ja, in den Innenstädten wird es langweilig. Oder sie veröden, weil an den Stadträndern Zentren gebaut werden. Alles muss gut mit dem Auto erreichbar sein.

Haben wir zu lange nur ums Auto herumgeplant?

Speer: Garantiert! Das Auto ist ein Zeichen für Prosperität, für gesellschaftliches Prestige. Auf dem Land ist es oft das einzig mögliche Verkehrsmittel, um die Kinder in den Kindergarten zu bringen. Wir brauchen andere öffentliche Verkehrsformen, von Kleinbussen bis hin zu elektronisch gesteuerten, rufbaren Systemen. Das wird sich schneller entwickeln, als wir denken, weil es zu teuer ist, riesige Busse halbleer fahren zu lassen. Die Technologien dafür haben wir. In Ulm gibt es gerade einen Test mit Car-to-go: Irgendwo in der Stadt parken die Autos, auf dem Bildschirm sieht man, wo eins in der Nähe steht, dann nutzt man es und stellt es irgendwo wieder ab. So wie bei den Fahrrädern der Bahn.

Sie meinen, das setzt sich durch?

Hein: Zumindest im Städtischen. In Seattle gibt es noch etwas anderes: Auf manchen Autobahnspuren darf man nur fahren, wenn mehrere Leute im Auto sitzen, und kommt zügiger voran. Speer: Das funktioniert hier nicht, Zwang ist immer das Schlechteste. Mit Geld kann man steuern: Sehen Sie nach Stockholm oder Singapur oder London, wo man in die Innenstädte nur reinfahren darf, wenn man zahlt - das wird akzeptiert!

Hein: Das behebt aber doch das Problem nicht. Die meisten zahlen, und dann ist es für sie erledigt.

Speer: Es verringert das Verkehrsaufkommen ein bisschen. Zürich zum Beispiel hat Ende der 70er Jahre einen Kordon von Ampeln um die Innenstadt eingerichtet. Wenn eine gewisse Zahl von Autos in die Innenstadt gefahren ist, verlängern sich die Rotphasen. So wird gesteuert, wie viele Autos in der Innenstadt sind. In Frankfurt kann man nirgends mehr umsonst parken.

Wenn jemand nach Frankfurt zieht, wird er erst mal bedauert.

Hein: Was Frankfurt ein wenig fehlt - das sage ich als einer, der hier sofort hinziehen würde -, ist emotionale Wärme. Es erscheint glatt und kalt.

Speer: Das ist eine Mentalitätsfrage. Köln kann so hässlich sein, wie es will, die Kölner lieben Köln. Viele meiner Bekannten, die nach Frankfurt kamen, sagen, sie hätten gar nicht gewusst, was diese Stadt alles zu bieten hat. Es gibt das Sprichwort: Sie weinen zweimal - einmal, wenn sie nach Frankfurt ziehen, einmal, wenn sie wieder wegziehen.

Herr Speer, sind Sie ein Frankfurter?

Speer: Ja, das bin ich.

Und Sie, Bischof Hein?

Hein: In Hanau bin ich aufgewachsen, in Frankfurt zur Schule gegangen, nun lebe ich in Kassel - und fühle mich als Hesse.

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