Ein Dokumentarfilm über Antisemitismus stellt die irritierende Frage, ob es den überhaupt gibt. Und wenn ja, warum
07.10.2010

Yoav Shamir ist 1970 in Israel geboren. Antisemitismus kennt er nicht. Aber vielleicht doch seine Großmutter - oder die Vorfahren, die im 19. Jahrhundert aus Russland nach Palästina gekommen sind? Großmutter, was ist das? Unsinn, Junge, sagt sie. Wer so was erlebt, der soll einfach zu uns kommen. Aber Großmutter, sagt der Enkel, warum kommen sie denn nicht nach Israel? Weil sie woanders mehr Geld machen, Juden sind Betrüger, antwortet die Großmutter. Und so geht es weiter in Shamirs Dokumentarfilm "Defamation": überraschend.

Antisemitismus", sagt Yoav Shamir, "ist die ultimative ‚heilige Kuh' der Juden." Er will diese Kuh nicht schlachten, er will bloß fragen. Das tut er durchaus provozierend, ein bisschen wie Michael Moore. Was er besser macht als Moore: Er lässt vielen seiner Protagonisten viel Zeit. Was dazu führt, dass sich der Zuschauer wirklich ein Bild von ihnen machen kann. Und dann lässt er ihnen noch einen Moment Zeit - bis der gerade entstandene Eindruck revidiert werden muss. Abraham Foxman zum Beispiel, der selbstgefällige Chef der amerikanischen Anti-Defamation League, Freund der Mächtigen und Reichen, entpuppt sich am Ende doch als klug und selbstkritisch. Bei Norman Finkelstein, dem umstrittenen Politikwissenschaftler, ist es eher umgekehrt.

Die Anti-Defamation League (ADL) ist eine Organisation, die den Antisemitismus bekämpft. Ihr Chef, Abraham Foxman, wird von Regierungschefs empfangen und hat beste Kontakte. Natürlich will er Shamirs Projekt unterstützen, und seine Mitarbeiter sind echt bemüht, einen Fall von Antisemitismus aufzutreiben, den Shamir für seinen Film verwenden kann. Leider findet sich nicht wirklich etwas Geeignetes. Ist der Antisemitismus nur ein Gerücht?

Natürlich nicht. Trotzdem erlebt Shamir Erstaunliches bei seiner Recherche. Er heftet sich an die Fersen von israelischen Schülern beim Besuch in Auschwitz und zeigt, wie die Jugendlichen unter dem Schutz von jüdischen Sicherheitsleuten ein Europa kennenlernen, das ihnen feindlich erscheinen muss. Er zeigt, wie die Unterstützer der ADL, wohlhabende säkulare Juden ohne irgendeine Sehnsucht nach Israel, den Zionismus als Selbstvergewisserung brauchen. Er lässt sie das selbst erzählen. Er zitiert einen Rabbi aus Kiew: Antisemitismus sei nicht das Thema orthodoxer Juden, er sei ein Thema für die, die nicht in die Synagoge gingen, irgendwie müssten die ja auch Identität bilden. Shamir fragt schwere Jungs auf den Straßen New Yorks, er lässt einen jüdischen Journalisten erklären, warum es "gut" sei, dass die Zahl antisemitischer Vorfälle in Amerika zunehme, er besucht Soziologen, bei denen die Kritik an Israels Politik mal so pauschal als Antisemitismus durchgeht...

Die Szenen in diesem Film, den die Jury der evangelischen Filmarbeit zum Film des Monats Oktober kürte, sind oft absurd und grotesk, aber auch schockierend. Oft haben seine Szenen, gerade aus unserer Sicht, etwas gefährlich Entlastendes - Vorsicht an der Bahnsteigkante: Der Film untersucht, warum es Antisemitismus gibt und wem er nützt. Er stellt nicht ernsthaft infrage, dass es ihn gibt. Man wird streiten über diesen Film, ihn hier und da gegen sich selbst verteidigen müssen - und gegen falsche Freunde. Jetzt im Kino.

Anne Buhrfeind

Buhrfeind, Anne

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