Die Furcht beim Schreiben
Das Schlimmstmögliche muss im ersten Kapitel passieren, weiß der Bestseller-Autor. Irgendetwas, über das du nie hinwegkommst
Dirk von Nayhauß
12.12.2010

In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?
Morgens, wenn ich wieder allein bin und den Tag und meine Arbeit beginne. Ich liebe diesen Moment: Ich habe den Hund gefüttert und rausgelassen, früher habe ich die Kinder zur Schule gefahren, und dann kehre ich zum letzten Satz des Vortags zurück. Ich habe das schon immer so gemacht: Abends, bevor ich ins Bett gehe, lese ich den letzten Satz des Tages; und mit diesem Satz beginne ich den neuen Tag. Es ist ein Gefühl der Zugehörigkeit. Das Buch gehört zu mir und ich gehöre zu dem Buch. Es ist mein Werk, ich habe es geschaffen, ohne mich würde es nicht existieren.

Was können Erwachsene von Kindern lernen?
Es ist sicher kein Zufall, dass häufig die Perspektive eines Kindes auf den ersten Seiten eine zentrale Rolle spielt. In einem gewissen Sinne sind Kinder mein Thema beziehungsweise die Veränderungen, die beim Heranwachsen auftreten. Es hat mir als Schriftsteller sehr geholfen, das Leben immer auch mit den Augen eines Kindes betrachten zu können. Mein ältester Sohn wurde 1965 geboren, da war ich 23 Jahre alt und noch ein Student; mein jüngster Sohn hat gerade erst das Haus verlassen. Meine Kinder haben für eine sehr lange Zeit meinen Alltag und mein Leben mitbestimmt. Gerade zu Everett, meinem Jüngsten, habe ich eine besondere Beziehung. Er schreibt auch, er ist auch Künstler, ein Schauspieler, ein Sänger. Ich habe viel mit ihm gemeinsam.

An welchen Gott glauben Sie?
Ich war immer an der Geschichte von Religionen und ihren Philo­sophien interessiert, ich habe früher eine Menge Kurse über unter­schiedliche Religionen besucht. Ich selbst bin nicht religiös, aber es interessiert mich bis heute, wie Religionen funktionieren, wie sich der Glaube von Menschen ähnelt. Als ich „Owen Meany“ schrieb, habe ich mich gefragt: Was müsste passieren, damit ich an Gott glauben könnte? Wen müsste ich treffen? Und die Antwort lautet: Ich müsste jemanden wie Owen Meany kennen­lernen. Jemanden, der auf eine unerklärliche Weise mehr versteht als andere Menschen. Wie kann dieser Kerl vorhersagen, an welchem Tag genau er sterben wird? Er weiß es selbst nicht, und es gibt auch keine wissenschaftliche Erklärung dafür.

Muss man den Tod fürchten?
Vor drei Jahren hatte ich Prostatakrebs. Anfangs gaben sie mir eine ziemlich schlechte Prognose, doch bei der Operation zeigte sich, dass der Tumor klein war und vollkommen eingeschlossen. Ich war euphorisch, ich hatte das Gefühl, als hätte mich die todbringende Kugel um Haaresbreite verfehlt. Den Tod selbst fürchte ich nicht, aber das Sterben – das geht doch jedem so. Und jeder würde gern bestimmen, wie er stirbt, ohne zu leiden.

Welche Liebe macht Sie glücklich?
Die meiner Frau und meiner drei Söhne, das ist offensichtlich, diese Menschen sind mir enorm wichtig. Ich wünsche mir sehr, dass meine Kinder glücklich sind. Und dass ich den Rest meines Lebens mit meiner Frau Janet zusammen bin und ich zuerst sterbe. Das klingt nicht sonderlich originell, aber das ist es.

Ihre Bücher sind lustig, aber auch grausam. Warum müssen Ihre Helden so viel durchmachen?
Das Erzählen einer tragischen Geschichte ist ein perverser Akt. Du erschaffst Charaktere, die du liebst, und dann bestimmst du, dass ihnen schreckliche Dinge widerfahren. Das habe ich sehr oft mit meinen Hauptfiguren gemacht. Gerade im ersten Kapitel sollte das Schlimmstmögliche passieren. Etwas, über das du nie hinwegkommen wirst, von dem du dich nie mehr erholen wirst. Dass mein Kind stirbt, ist mit das Furchtbarste, was ich mir vorstellen kann – aber das ist es, was mich beim Schreiben interessiert. Auch in „Letzte Nacht in Twisted River“ stirbt Joe, der Sohn meiner Hauptfigur. Ich würde das gern vermeiden, aber ich muss beim Schreiben selbst eine gewisse Furcht empfinden, es muss mich selbst beunruhigen, sonst kann ich nicht erwarten, beim Leser eben diese Gefühle auszulösen.

Wie viel Disziplin tut Ihnen gut?
Ich wüsste nicht, dass man zu diszipliniert sein könnte. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich mich beim Schreiben beherrschen müsste, ich liebe es, am Schreibtisch zu sitzen. Auch acht Stunden am Tag, das ist besser als bloß drei.

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