Nahlah Saimeh und Ingolf U. Dalferth
Foto: Andri Pol
Das Böse ist immer und überall - aber was genau ist es bloß?
Die Forensikerin Nahlah Saimeh und der Theologe Ingolf U. Dalferth über dunkle Seiten in anderen - und in uns
Hedwig Gafga, Autorin
Tim Wegner
07.10.2010

chrismon: Hatten Sie je das Gefühl, dem Bösen zu begegnen?

Nahlah Saimeh: Ich sitze immer einem Menschen gegenüber. Auch bei einem schweren Gewalttäter, einem Sexualstraftäter gilt: Er ist ein Mensch, ich bin ein Mensch. Da kommen zwei Wesen einer Art zusammen, die sehr viel mehr gemeinsam haben, als sie trennt. Sie haben ungeheuer zerstörerische Handlungen begangen, die man als moralisch böse verurteilen muss. Aber ich sehe nicht dem Bösen ins Auge. Ich habe es noch nie gesehen.

Ingolf U. Dalferth: Es gibt Verbrechen und sinnloses Leiden, bei denen man nicht nachvollziehen kann, wie jemand so etwas tun oder ertragen kann. Dann benutzen wir das Bild vom Bösen. Ich habe im letzten Sommer auf einem Dorf in Guatemala bei den Mayas gelebt. Frauen und Kinder waren während des Bürgerkrieges von Soldatenhorden erschossen worden, die Männer wurden gezwungen, Bewohner des Nachbardorfes zu töten. Täter und Angehörige der Opfer leben heute miteinander im selben Dorf. Opfer, die nicht verstehen, warum ihnen das geschehen ist. Und Täter, die als Opfer zu Tätern gemacht wurden. Sie haben gelernt, mit dem Bösen zu leben. Sie alle versuchen, eine Lebensorientierung, die zerbrochen war, wiederzufinden. Das würde nicht gelingen, ginge ihr Blick nur zurück und nicht nach vorn.

Ist das Destruktive nicht das Böse?

Saimeh: Richtig. Aber die Frage, was böse ist, wird zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich beantwortet. Vergewaltigung in der Ehe ist heute ein Straftatbestand, den es früher nicht gab. Auf der anderen Seite ist Homosexualität kein Straftatbestand mehr. Für mich ist das, was man philosophisch oder moralisch als das Böse bezeichnen könnte, dasjenige Handeln, das sich gegen das Prinzip des Lebendigen richtet.

Dalferth: Wir denken das Böse meist in der Täterperspektive. Es wäre jedoch besser, es aus der Perspektive der Opfer zu betrachten: Von Bösem kann man überall dort reden, wo jemand so betroffen wird, dass etwas in seinem Leben oder sein Leben überhaupt sinnlos abgebrochen, ruiniert, zerstört wird, ohne dass daraus Anknüpfungspunkte für etwas anderes entstehen. Das Böse geschieht, wo nur kaputt gemacht wird.

War das nicht zu allen Zeiten so, jenseits aller rechtlichen Reformen?

Saimeh: Ja, in vielen Formen. Krieg, Terror, Mord und Totschlag, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Brandstiftung und auch Eigentumsdelikte sind ein Angriff gegen das Prinzip des Lebendigen.

Dalferth: Dabei versagen die üblichen Kategorien der Bewertung. Auch die Unterscheidung von Täter und Opfer vermag das Geschehen nicht ganz zu erfassen. Wenn uns etwas schockiert, fragen wir: Wer ist schuld? Es ist ein Übel, sagen wir, wenn eine Naturkatastrophe passiert. Vor einigen Jahren gab es einen Winter mit viel Schnee und Lawinenunfällen. Wir haben die Berichte dieses Winters mit entsprechenden Berichten Ende des 19. Jahrhunderts verglichen. Damals nahm man das als Schicksal hin. Heute kommt sofort die Frage nach den Verantwortlichen.

Brauchen wir immer einen Schuldigen?

Dalferth: Wir brauchen die Unterscheidung, um Opfern und Tätern gegenüber gerecht zu sein. Sie suggeriert allerdings, es gäbe die einen, die nur Täter sind, und die anderen, die nur Opfer sind. Die eigentlichen Probleme treten jedoch auf, wo die Grenze mitten durch Menschen - und durch mich - hindurchläuft, wo wir beides sind: Täter und Opfer.

Saimeh: Ich kenne viele Täter, die in ihrer eigenen Biografie lange Zeit Opfer gewesen sind. Das rechtfertigt überhaupt nicht deren Taten. Aber für die Täter ist es häufig so, dass sie durch schwere Misshandlung und Vernachlässigung in den ersten zwölf Lebensjahren ausschließlich Opfer waren, bis sie dann zum Täter mutiert sind. Bis der Schmerz, den sie selbst erlitten haben, für sie nur noch dadurch zu bewältigen war, dass sie anderen Schmerzen zugefügt haben. Ich kenne einige Fälle, bei denen die beschriebene Grenze mitten durch ihre Person hindurchläuft.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Saimeh: Ich erinnere mich gut an einen Mann, der in stark verwahrlosten und sehr verrohten Verhältnissen aufgewachsen ist mit einem gewalttätigen Vater und einer schwachen Mutter. Er erlitt schwerste Misshandlungen. Ursprünglich war es ein sensibles Kind, das zu einem getriebenen Kriminellen gemacht wurde.

Was können Eltern tun, damit ihre Kinder zu guten Menschen werden?

Saimeh: Ein Kind, das nicht von der ersten Sekunde an Pflege und Zuwendung bekommt, stirbt, und zwar binnen weniger Stunden. Wenn die Eltern zur liebevollen Zuwendung nicht fähig sind, kann es zu Entwicklungsstörungen kommen. Es können auch hirnorganische Eigenheiten beim Kind vorliegen, wodurch es die Zuwendung nicht adäquat aufnehmen kann. Viele Straftaten geschehen aus Kränkungen und aus einer Unfähigkeit, Scham zu verarbeiten. Ich finde das Bild vom Sündenfall dafür exzellent. In diesem Bild sind Erkenntnis und Schamempfinden benannt. Mit der Reifung des Gehirns, mit der Fähigkeit, moralische Kategorien zu bilden, haben wir die Möglichkeit, Böses zu tun. Das Böse liegt in der Natur des Menschen.

Dalferth: Erziehung hat gar nicht immer mit direkter Einwirkung von einer Person auf die andere zu tun. Erziehung geschieht auch durch Gestaltung von Umgebungen, in denen bestimmte Möglichkeiten geboten oder vermieden werden. Oft können Eltern oder Lehrer nur begleiten, aber nicht initiieren oder lenken. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass wir selbst dort nicht verhindern können, Böses anzurichten, wo wir nur Gutes tun wollen. Darum geht es in der christlichen Lehre von der Sünde: Sie will vor einem illusionären Selbstverständnis bewahren und dazu anleiten, das Leben realistisch und kritisch zu sehen.

Saimeh: Gut und Böse in die eigene Person zu integrieren, ist ein entscheidender Entwicklungsschritt. Wir kennen Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, die genau das nicht können. Klassisches Beispiel ist die Borderlinestörung. Dann ist jemand nicht in der Lage, innerhalb einer Person gute und weniger gute, schwache und starke Anteile wahrzunehmen. Jeder Mensch hat konstruktive, dem Lebendigen zugewandte Ressourcen und destruktive Anteile. Das können Menschen mit frühen Störungen nicht sehen. Sie bauen ihre Beziehungen idealisierend oder entwertend auf. Jemand ist nur großartig oder er taugt überhaupt nichts.

Welche Folgen hat das?

Saimeh: Das kann zu Gewalt führen, beispielsweise in einer Partnerschaft. Wenn der Partner etwas tut, was nicht in das idealisierte Bild passt, kann es sein, dass diese Person total entwertet wird. Und wer "nichts wert" ist, den kann man auch zerstören. Dieses Muster gibt es auch in der Politik. Die Sünde in anderen Gruppen zu erkennen, hat schon viel Unheil gebracht. Das, was man am anderen hasst, ist auch in einem selbst. Aber dadurch, dass ich es auf eine Gruppe projiziere, kann ich mich selbst davon frei fühlen. Im anderen kann ich es dann zerstören. Das ist ein typischer Mechanismus des dämonisierenden Denkens. Das erleben wir bei Terrorismus, bei Kriegstreibern, in allen Ismen. Das Böse wird immer in einer Gruppe verortet, die es zu zerstören gilt, damit es einen selbst nicht durchwandert.

Dalferth: Deshalb ist es immer zu einfach, wenn wir einen Täter als Bösewicht oder Monster zeichnen, die ganz anders sind als wir. Es ist ein wichtiger Schritt, zu erkennen, dass das Fremde auch auf meiner Seite zu finden ist. Was ich im anderen beschreibe, ist immer auch eine Selbstbeschreibung.

Wie kann man über ein schreckliches Erlebnis wegkommen?

Dalferth: Wenn mir etwas Schreckliches passiert ist oder ich etwas Schreckliches getan habe, kann ich nur dann weitergehen, wenn es mir gelingt, mich davon und von mir selbst zu distanzieren. Ich muss einen anderen Blick auf mich und das Erlebte finden. Sonst verharrt man ratlos davor. Man braucht einen Umweg. Das können neue Erfahrungen mit anderen Menschen sein, eine neue Umgebung, eine Therapie. Als Theologe setze ich hinzu: Wir brauchen den Umweg über Gott. Dann kommen andere nicht nur als Menschen mit bestimmten Tätigkeiten und erfreulichen oder abstoßenden Eigenschaften in den Blick, sondern als Nächste. Ich sehe sie Gott gegenüber in der gleichen Position wie mich selbst.

Ist der schwer gestörte Täter, der gerade einen anderen Menschen heimtückisch ermordet hat, Ihr Nächster?

Saimeh: Selbstverständlich ist er das in einem grundsätzlichen Sinn. Sonst könnte ich nicht tun, was ich tue. Die Medien neigen dazu, Täter zu dämonisieren. Das verstellt den Blick auf die banale Erfahrung, dass stets ein Mensch gehandelt hat. Der Mensch ist zum Bösen fähig. Im Grunde ist dies doch auch die ungeheuerliche Erkenntnis aus der Zeit des Nationalsozialismus: dass eben ganz normale Menschen zu diesen unfasslichen Grausamkeiten fähig waren. In der "Gnade der späten Geburt", von der Helmut Kohl gesprochen hat, steckt eine düstere Wahrheit.

Dalferth: Wer einem anderen oder einer Gruppe den Stempel "bösartig" aufdrückt, will ihn aus der Gemeinschaft der Menschen ausgrenzen und ihm das Menschsein absprechen. Dann werden unglaubliche Dinge möglich, etwa die Art und Weise, wie die Nationalsozialisten die Juden verfolgt und ermordet haben. Sie mussten dafür gar nicht das bestehende Moralsystem verändern, sondern sie haben deren Menschsein infrage gestellt. In der Geschichte gibt es dafür etliche Beispiele. Bei der Entdeckung der Indianer wurden Debatten abgehalten, ob diese Lebewesen in die Kategorie der Menschen gehörten oder nicht. Wir sehen die anderen aus einer bestimmten Perspektive, beurteilen sie, und daraus resultiert unser Verhalten.

Das Böse gilt heute regelrecht als schick. Es gibt Bücher, Ausstellungen - und Frauen wollen gern "böse Mädchen" sein. Wie erklären Sie sich das?

Saimeh: Die Faszination für das Böse hat die Menschen immer angetrieben. Das zeigen etwa die Dr.-Jekyll-and-Mr.-Hyde-Geschichten im viktorianischen Zeitalter. Sie haben eine entlastende Funktion. Jeder von uns hat mal darüber nachgedacht, wie er sich selbst umbringen könnte. Jeder von uns hat auch mal darüber nachgedacht, wie er jemand anderes töten würde - obwohl er sehr weit davon entfernt ist. Unsere Biologie hat uns nicht nur eine defensive, sondern auch eine destruktive Aggression mitgegeben. Die Faszination für das Destruktive äußert sich auch in Sensationslust. Der Bösewicht begeht stellvertretend für uns einen Tabubruch. Er tut offenbar etwas, was man sich selbst auch nicht traut. Je schwerer zu fassen es ist, desto berühmter werden Sie damit. Denken Sie an die extrem seltenen Fälle von Amoklauf! Damit kommen sie in jeder Gazette auf Seite eins. Sehr ärgerlich! Dalferth: Der Amoklauf ist ein Verbrechen, das ein Publikum braucht. Wenn wir uns das Publikum wegdenken, dann fehlt ein wesentliches Motiv für einen Amoklauf.

Nun haben sich die Eltern des Amokläufers von Winnenden bei den Angehörigen der Opfer entschuldigt. Die aber lehnten diese Entschuldigung ab. Wie beurteilen Sie das?

Dalferth: Kann ich mich für Taten entschuldigen, die ein anderer begangen hat? Es gibt eine Tendenz, sich für Dinge zu entschuldigen, die das Entschuldigen trivialisieren. Zum Beispiel wenn die Ereignisse Jahrhunderte zurückliegen. Nur wenn ein konkreter Gegenwartsbezug da ist, hat eine Entschuldigung einen Sinn. Eine Entschuldigung muss aus der eigenen Betroffenheit heraus kommen. Wenn ich sie plakativ vornehme, weil es mir um den Effekt geht, dann wird sie instrumentalisiert und wirkt zynisch. Saimeh: Das hat zum Teil groteske Ausmaße. Ich erinnere mich an eine Gerichtsverhandlung. Jugendliche hatten gemeinsam einen anderen Jugendlichen sadistisch gequält, und diese Täter nuschelten dann nach entsprechender Beratung durch ihren Strafverteidiger eine floskelhafte Entschuldigung. Das ist schwer erträglich.

Wie können wir nach so einer schrecklichen Tat neu anfangen?

Saimeh: Wichtig ist das Innehalten-Können. Wenn wir an die jüngere Geschichte Deutschlands denken: Das Grauen unserer Geschichte verlangt meiner Ansicht nach ein Stillwerden, keinen Pomp. Einsicht gibt es nur in diesem Stillwerden. Im Grunde muss auch ein Täter, wenn es für ihn eine wirkliche Entwicklung geben soll, irgendwann an diesen Punkt kommen. Ob "Neuanfang" der richtige Begriff ist, weiß ich nicht. Es geht eher um eine neue Orientierung vor dem Hintergrund des Gewesenen. Diese mediale Vermarktung von hochdestruktiven Taten behindert die stille Einkehr und fördert Eitelkeiten.

Dalferth: Wir neigen dazu, zu generalisieren. Wir kennen den Täter, und sofort gerät die ganze Familie in den Blick oder eine ganze Gruppe. Wir tendieren dazu, einen Raum weiterer Verantwortlichkeit zu konstruieren. Manchmal aus gutem Grund, manchmal in hochfragwürdiger Weise. Andere aus dem Umfeld werden dann so betrachtet, als wären sie an dem Verbrechen beteiligt gewesen. Solche willkürlichen Zuschreibungen von Verantwortung muss man unterbrechen.

Saimeh: Beim Amoklauf wird oft das Schulsystem verantwortlich gemacht. Oder gar die Klasse, in der Jugendliche niedergeschossen wurden. Vielleicht wurde da vorher gemobbt? Es besteht eine ungute Neigung, den Täter von der Verantwortlichkeit für sein Handeln zu entlasten, weil im Grunde die Opfer ja eine Mitschuld trügen. Auf der anderen Seite muss man sagen: Wir als Gesellschaft nötigen den Politikern nach jedem schrecklichen Vorkommnis unhaltbare Sicherheitsversprechen ab. Damit entlasten wir nicht nur Täter von ihrer Verantwortung, sondern berauben sie mit dem Verantwortlich-sein-Können auch ihrer Menschenwürde.

Im Vaterunser heißt es: "Erlöse uns von dem Bösen." Wie verstehen Sie diese Bitte?

Dalferth: Die Bitte richtet sich an Gott, aber sie sagt nicht, dass wir untätig sein sollen. Das Böse sollte verhindert werden, wo immer wir es können. Wo dies nicht möglich ist, sollten wir eine Weise des Umgangs finden, die einen nicht in Verzweiflung versinken lässt. So erzählen die biblischen Texte von der Überwindung des Bösen.

Denken Sie an die Auferstehung?

Dalferth: Das ist das extremste Symbol dafür. Aber nehmen Sie den Josef. Er wird von seinen Brüdern in den Brunnen geworfen, an Sklavenhändler verkauft und kommt nach Ägypten. Im Rückblick sagt er: Ihr habt Übles getan, Gott hat Gutes daraus gemacht. Diese Hoffnung, dass auch das schlimmste Übel nicht das letzte Wort ist, sondern noch einmal ein anderes Wort darüber gesprochen wird, das ist die Überwindung des Bösen, von der hier die Rede ist.

Saimeh: Es ist eine Illusion zu meinen, man könne alles dafür tun, dass jemand einen anderen Menschen nicht umbringt. Es gibt Tötungsdelikte, begangen von Jugendlichen, die vor der Tat völlig unauffällig waren. Sie begehen die Tat - paradox formuliert - in dem Moment, wo sie sie begehen. Diese menschliche Fähigkeit bleibt. Von ihr werden wir nicht erlöst, und auch kein noch so kompetenter Politiker kann uns diese Erlösung bringen. Die Formulierung "Erlöse uns von dem Bösen" kann man weiterspinnen: "...von dem Bösen in uns." Mit der Selbsterkenntnis kommt die Scham, kommt die Vertreibung aus dem Paradies, also aus diesem imaginären Ort des nur Guten. In diesem Bild steckt, dass der Mensch in einen Lebensraum geworfen ist, der nicht nur gut ist.

Dalferth: Für Menschen, die der Erfahrung des Bösen ausgesetzt waren, brechen Selbstverständlichkeiten zusammen. Das Leben funktioniert nicht mehr so wie zuvor. Angesichts dessen versuchen sie, eine neue Lebensorientierung zu gewinnen. Dieses Sichreorientieren betrifft auch ihr Gottesverständnis. Es ist nicht stabil gegeben. Zu entdecken, dass Gott mit Liebe, mit Gerechtigkeit zu tun hat, ist ein Entdeckungsprozess und kann keineswegs als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Die Bitte um die Erlösung vom Bösen ist auch die Bitte, dass Gott auf der Seite des Guten bleibt und nicht auf die Seite des Bösen geht. Denn er soll uns nicht in Versuchung führen.

Nimmt das Böse zu?

Dalferth: Der Witz ist, dass mit jeder Maßnahme, mit jedem technischen Fortschritt, der wichtig ist, Probleme unter Kontrolle zu bekommen, wir zugleich neue Möglichkeiten schaffen, Böses zu produzieren. Wir spalten den Atomkern, um dringend benötigte Energie zu gewinnen, und wir machen es damit möglich, alles Leben auf der Erde zu vernichten. Es ist kein Bereich menschlichen Handelns denkbar, der mit der besten Intention nicht auch eine neue Dimension schädlicher Folgen eröffnet. Dass die Menschheit sich in eine Situation manövriert hat, wo sie sich und alles Übrige auslöschen kann, kannten andere Generationen noch nicht. Das zu ignorieren, wäre lebensgefährlich. Wir werden das Böse immer nur in neue Formen transformieren.

Müssen moderne Menschen lernen, sich damit abzufinden, dass Böses nun einmal ein Teil der Wirklichkeit ist und sie es mit Maßnahmen eher verschlimmern?

Saimeh: Es gibt eine Verpflichtung, Verantwortung zu übernehmen, Risiken zu erkennen und zu minimieren. Insofern möchte ich keinesfalls die Botschaft senden: Regt euch nicht so auf. Auch wenn wir wissen, dass das Böse in der Welt ist, haben wir in unserem Alltag die Verpflichtung, so zu handeln, dass wir Leid möglichst von uns und anderen fernhalten. Es ist ja ein Faktum, dass wir bei dem Thema immer vom Bösen im anderen reden und nie von den eigenen destruktiven Gedanken und Verhaltensanteilen. Der andere ist auch ein Teil von uns.

Dalferth: Nur dasjenige verdient wirklich gut genannt zu werden, das nicht versucht, Böses mit Bösem zu korrigieren. Wie kann man mit Bösem umgehen, ohne es selbst auf böse Weise zu tun? Wie kann man sich gegen Anschläge auf die Freiheit schützen, ohne die Freiheit zu zerstören? Wie kann man den Opfern von Mördern Gerechtigkeit widerfahren lassen, ohne den Mördern selbst das Leben zu nehmen? Wie kann man mit Bösem leben, ohne böse zu werden? Als ich vor einiger Zeit in die USA einreiste, wurde ich an der Grenze von einem Beamten gefragt, was ich dort wolle. Ich erklärte, dass ich einen Vortrag über das Böse halten werde. Das Entscheidende sei, sagte der Beamte, mit evil, mit dem Bösen, so umzugehen, dass man selbst nicht evil, also böse, werde. Das ist der Punkt.

Saimeh: Das ist auch das Prinzip jeder forensischen Klinik. Psychiatrische Kliniken, in denen Straftäter therapiert werden, sind für mich ein Bestandteil menschlicher Zivilisation im besten Sinne. Ich halte es mit Marie von Ebner-Eschenbach: "Wer die Menschen behandelt, wie sie sind, macht sie schlechter. Wer sie behandelt, wie sie sein könnten, macht sie besser." Das wir dennoch natürlich kein idealer Ort sind, ist mir bewusst.

Dalferth: Böses mit Bösem zu überwinden, ist eine Strategie, vor der man sich hüten muss. Wenn wir die Gefährdungen der Freiheit dadurch bekämpfen wollen, dass wir die Freiheit selbst aufheben, spielen wir dem Bösen in die Hände. Der Glaube kennt es anders. Er lebt von der Erfahrung, dass Böses nicht das letzte Wort behält, wenn man ihm mit Gutem begegnet. Wo Böses nicht mit Bösem, sondern mit Gutem vergolten wird, kann - Gott sei Dank - auch aus Bösem Gutes erwachsen.

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Herzlichen Dank für das sensibel, höchst-intelligente Kommentar von Fr Saimeh. Ich arbeitete einige Monate in einer forensische Klinik, im hochsicheren Bereich. Ich konnte morgens nur dahin, wenn ich dem Lied zuhörte: " who shall abide the Day of His Coming, who shall stand". Das bedeutete mir, diese schwerstgewaltaetigen Psychisch Kranke, würden auch am letzten Tag dem Herrn gegenueberstehen; ich müsse und solle sie nicht beurteilen, sondern menschenwürdig behandeln. Schliesslich fiel es mir zu schwer, und ich verliess die Klinik. Ich bewundere Fr. Saimeh sehr.

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