Momente der Freiheit
Was ist Frömmigkeit? Man nehme Hunger, eine reizarme Umgebung, Schlafentzug. Man warte. Und dann? Was Frömmigkeit ist und warum es mit Frömmelei nicht das Geringste zu tun hat.
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
13.12.2010

Fromm sein, wie geht das? „Das einfachste Rezept für den Eintritt in die Außeralltäglichkeit ist eine Kombination aus Schlafentzug, Hunger und reizloser Umgebung“, schreibt Adolf Holl, der inzwischen 80-jährige Wiener Theologe und Religionssoziologe. „Nach einer Woche, die man auf diese Weise verbracht hat, ­be­ginnt sich bei einigermaßen günstigen Voraussetzungen das Jenseits zu melden.“

Wer sich selbst als fromm bezeichnet, hat nicht selten mit dem Vorwurf zu rechnen, emotional überzogen zu sein, an die Stelle von klugem Denken und Handeln Gefühligkeit zu setzen oder sich durch Psychotricks in andere Seelenzustände zu versetzen. Alle Andacht und religiöse „Versenkung“ laufe auf einen Punkt hinaus: das Ziel, einen Zustand besonderen Wohlbefindens zu gewinnen und dazu dem Ego weitere Nahrung zuzuführen. Mehr Ich.

Frömmigkeit im ursprünglichen Sinn ist genau das Gegenteil: die Konfrontation mit einer anderen Welt, mit anderen Gedanken, anderen Wertmaßstäben, anderen Lebensmaximen. Frömmigkeit ist eine ganze Lebenseinstellung. Ihr Kernsatz: Ich selbst stehe nicht im Zentrum aller Dinge. Es ist ein Weg, sich selbst teilweise infrage, sein Leben unter andere als die eigenen Prämissen zu stellen. Es ist ein radikaler Blickwechsel: Es steht nicht mehr die Frage im Vordergrund, was man mit Gott, Kirche und Christentum anfangen und Nützliches tun kann, sondern die Frage: Was hat Gott mit mir vor? Dieser Blickwechsel enthält das ganze Geheimnis.

Von ganzem Herzen trauen, alle seine Hoffnung auf ihn allein setzen

Zu Martin Luthers Zeiten fiel das Reden über ein frommes – er nannte es ein „gottseliges“ – Leben leichter als heute. In seinen Erklärungen zum Kleinen Katechismus beantwortet der Reformator die Frage „Was heißt Gott über alle Dinge lieben?“ so: „Es heißt: wegen seiner Gütigkeit und Barmherzigkeit eine herzliche Zuneigung und sehnliches Verlangen nach ihm tragen, sich in ihm allein freuen und um seinetwillen alles Kreuz willig erdulden.“ Und zum Stichwort Gottvertrauen führt er aus: „Es heißt: sich in Lieb und Leid auf seine Allgegenwart, Macht und Weisheit allein verlassen, seiner Treue und wahrhaftigen Verheißung von ganzem Herzen trauen, alle seine Hoffnung auf ihn allein setzen und im Glauben an ihm beständig verharren.“

Es gibt neben dieser grundsätzlichen Le­benseinstellung auch einzelne Verhaltensweisen, die man als fromm bezeichnet: Frömmigkeitsübungen wie Meditationen, wie die „stille Andacht“, wie das Gebet, wie das Lesen in der Bibel. „Es ist ein Moment der Freiheit“, schrieb der Theologe Fulbert Steffensky in einem Text über die Lektüre der täglichen Losungen, also der fürs ganze Jahr festgelegten Bibelsätze. „Der fremde Gedanke führt mich von mir selber weg, er bringt mich in Widerspruch zu mir selber.“ Sich auf etwas einzulassen, was man nicht selbst ausgewählt hat: Das ist eines der Kennzeichen von Frömmigkeit. Dazu gehört der tiefe Wunsch, sich von eigenen eingefahrenen Überlegungen und alltäglichen Abhängigkeiten zu befreien. Das eigene Wohlgefühl zu stimulieren ist etwas anderes.

Im ursprünglichen Wortsinn hat Frömmigkeit nichts mit Frömmelei zu tun

Frömmigkeit ist keine Psychotechnik oder Autosuggestion. Sie zielt nicht darauf, sich selbst zu spüren, mit sich zu experimen­tieren. Sie entzieht sich einem schnellen Nutzen. Es gibt Christen, die monatelang beteten, bis sie spürten: Etwas hat ihr Herz erfüllt. Es gibt buddhistische Mönche, die jahrelang meditierten und nur mühsam und kurz einen Zustand erreichten, den sie als Erleuchtung empfanden.

Kann man Frömmigkeit erzeugen? Nein. Aber man kann sie Schritt für Schritt einüben. Das kann nur behutsam geschehen – so wie man einen Menschen mehr und mehr lieben lernt oder sich Schritt für Schritt auf ein neues soziales Umfeld einstellt. Sensibilität ist wichtiger als perfekte Planung. Wer alles genau regeln, die Fäden in der Hand behalten will, wird es schwer haben, sich zu öffnen, in unserem Beispiel: fromm zu sein.

Im Mittelhochdeutschen bedeutete „frum“ noch: tüchtig, förderlich, ehrfürchtig vor den Ordnungen des Lebens zu sein. Erst seit dem 17. Jahrhundert bekam das Wort eine überwiegend religiöse Bedeutung. Der ursprüngliche Wortsinn hat Charme: Er zeigt, dass Frömmigkeit nichts mit Frömmelei zu tun hat.

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Ich war schon eine Weile auf der Suche nach einer Definition von Frömmigkeit. Religiöser Einsteiger bin ich zwar nicht, aber Formulierungshilfen brauche ich immer wieder mal.
Herzlichen Dank für diesen ausführlichen Bericht zum Thema.

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