Warum auch in der Welt der Computerspiele die Moral regiert.
30.11.2010

Es muss am Paradies liegen, dass Computerspiele keinen ganz so guten Ruf haben. Denn der Garten Eden ist das Urbild aller künstlichen Paradiese - und als Schauplatz des Sündenfalls zugleich verbrannte Erde. So vererbte sich sein zweifelhafter Status im Lauf der Geschichte auf Opiumhöhlen, Freizeitparks oder eben Spielkonsolen.

Das Paradies ist von einer Mauer umgeben - ganz wie die frühen Automatenspiele

Tatsächlich nimmt die göttliche Parkanlage ziemlich genau die Umrisse jener Kulturindustrie vorweg, die vor ein paar Jahrzehnten mit klobigen Spielautomaten begann und Hollywood zur Zeit den Rang abläuft. Das Paradies ist von einer Mauer umgeben - ganz wie die frühen Automatenspiele, in denen die Ränder des Bildschirms die Bewegungsfreiheit einschränkten. Es gibt dort Quellen und Flüsse, Edelsteine und Gold - zu einem durchschnittlichen Fantasy-Rollenspiel fehlt also bloß noch der Nebel. Und im Mittelpunkt steht ein Spieler, der Mensch: Er kann dort in Frieden leben und sich an der Schönheit der Grafik berauschen, er kann aber auch die spannendere Verbrecherkarriere einschlagen und sich damit seinen Weg ins nächste Level bahnen - so wie in den sogenannten Open-World-Games, die mit "Grand Theft Auto IV" in diesem Frühjahr zur wichtigsten Spielegattung aufstiegen.

Mit jedem Videospiel wiederholt sich der Ursprungsakt der Weltschöpfung. Alle Aufgaben der Entwicklerstudios sind in der Genesis aufgelistet: Am Anfang geht es darum, eine überzeugende Spielephysik aufzubauen - mit realistischem Wechsel zwischen Tag und Nacht, spiegelnden Wasseroberflächen, glänzenden Lichteffekten und allerlei animiertem Getier. Dann muss ein Protagonist erschaffen werden, der zur Identifikation einlädt. Und zuletzt braucht es eine Handlung. Hier ähneln die neuesten Spiele der biblischen Schöpfung: Es gibt kaum Vorgaben, so ziemlich alles ist möglich.

Wer überleben wollte, hatte keine Wahl - außer zwischen Raketenwerfer und Plasmapistole

Lange Zeit war das anders. In der Frühgeschichte der Spiele schlossen finstere Verliese und labyrinthische Korridore den Spieler ein. Handlungsfreiheit war in diesen Unterwelten gänzlich unbekannt: Es war der nackte Überlebenstrieb, der das bewaffnete Ego vorwärtstrieb. Und wer in den Katakomben überleben wollte, hatte keine Wahl - außer vielleicht jener zwischen Raketenwerfer und Plasmapistole. So glichen die Weltenschöpfer dieses düsteren Genres, das in Ego-Shootern wie "Doom" zur Höchstform auflief, dem teuflischen Baumeistergott, an den die Gnostiker in den religiösen Geheimzirkeln der Spätantike glaubten. Die Erdenwelt ein Kerker, die Existenz eine Pein - und allein der Opfertod erlöst aus einem bis ins Detail programmierten Dasein. Die Vorstellung, dass uns ein böser Geist das Leben bloß vorgaukelt, existierte schon lange, bevor aus der Simulation ein blühender Geschäftszweig wurde.

Doch der Fatalismus, der die Videospiele über Jahrzehnte hinweg auf der Nachtseite unserer Kultur fixierte, schwindet seit einigen Jahren - und hinter den Rauchschwaden, die aus all den abgestürzten Raumschiffen und gesprengten Militärkomplexen emporsteigen, tritt die Silhouette eines digitalen Utopia zutage. Wie die Bibel nach den Zerstörungsorgien der Apokalypse ein neues Jerusalem an den Himmel zeichnet, so arbeiten die Spielehersteller nach der Zerstörung an einer verbesserten Neuausgabe der Welt. Die Spieler, mit blutverschmierten Händen aus ihren Höhlen hervorgekrochen, sind geblendet vom Licht einer künstlichen Sonne. Das lässt an Platons Höhlengleichnis denken.

Das neue Jerusalem, die Hure Babylon gibt es auch in den Computerspielen

All die Zweitwelten, die in den Weiten des Internets und auf den Konsolen der jüngsten Generation heranwachsen, ähneln jenen Inseln der Seligen, die in der Renaissance plötzlich auf den Landkarten der Fantasie auftauchten. Sie versprechen die Befreiung von den Mühen des Erdendaseins: So erlaubt "Second Life" die Fortbewegung per Teleportation - ein Verkehrsmittel, das in der abendländischen Geschichte nur jenen Heiligen zur Verfügung stand, die durch Entrückung ins Jenseits befördert wurden. "World of Warcraft" belebt nordische Mythen neu. "GTA IV" schließlich verkörpert die säkularisierte Utopie: Das in New York angesiedelte Autoknackerspiel handelt vom amerikanischen Traum - in seinen Ursprüngen auch eine Erfindung religiöser Splittergruppen aus Europa, die jenseits des Atlantiks ein von der korrupten Obrigkeit unberührtes Leben führen wollten.

In der Offenbarung des Johannes dient das neue Jerusalem als Gegenbild zur Hure Babylon, der verkommenen Hauptstadt der Eitelkeit. Nun lehrt die reale Geschichte der Landnahmen, dass eine völlige Neuerfindung der Menschheit unmöglich ist. Die Einwanderer schleppen den babylonischen Virus noch in jedes Utopia ein - und wie Amerika schon kurz nach der Ankunft der Pioniere für lose Sitten und Draufgängertum berüchtigt war, so wucherten in den Onlinewelten bald alle aus den Fernsehnachrichten vertrauten Realprobleme. Es gab Übergriffe sogenannter Script-Kids, die sich in den Code von "Second Life" hackten und mit selbst gebastelten Waffen um sich schossen. In China entstanden digitale Goldfarmen, wo unterbezahlte Bildschirmarbeiter in den Minen von "World of Warcraft" schuften - um den Rohstoff an westliche Spieler zu verkaufen, die keine Zeit für Knochenarbeit haben. Es gab Wut, Neid, Wollust und weitere Todsünden.

Trotzdem wäre es ungerecht und sogar weltfremd, den Kosmos der Digitalspiele zu verdammen und die Schöpfer dafür anzuklagen, was in ihrem Reich so für Quatsch getrieben wird. Im Gegenteil sprechen all diese Makel eher für die moralische Dimension der Spiele. Denn Moral bekommt erst da einen Sinn, wo der Mensch nicht - wie in frühen Adventure-Spielen - auf unsichtbaren Schienen durch die Welt gleitet, sondern wo an jeder Straßenecke eine Versuchung lauert. Womit das Paradies schon wieder durch den Monitor schimmert.

Das Paradies schimmert durch den Monitor

Apropos: Als lustorientierte Sonderbezirke sind die Elektrospiele ohnehin völlig missverstanden. Wenn irgendwo die Strafe für den Sündenfall mit besonderer Leidensbereitschaft verbüßt wird, dann hier. In "Tomb Raider" hangelten sich ganze Generationen im Schweiße ihres Angesichts durch elende Felswände, auch wenn es dafür zwanzig oder dreißig Wiederholungen brauchte. In "Monkey Island 3" suchten Heerscharen verzweifelt nach jener Rohrzange, die nötig war, um die Pumpe am Wasserfall zuzudrehen. Und die Gilden von "World of Warcraft" brauen mit einem solchen Bienenfleiß ihre Zaubertränke, dass man Max Webers "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" aus dem Regal ziehen möchte. Nur wer hart am eigenen Spielcharakter arbeitet, gehört zur Schar der Auserwählten - das wird jeder fünfzehnjährige Blutelf, jenes auf Rache sinnende menschenähnliche Wesen aus "World of Warcraft", bestätigen.

Am Ende geht es auch in Computerspielen darum, moralischen Mehrwert abzuschöpfen. Er ist der wahre Lohn für die oft fast absurde Selbstdisziplin, welche die Entwickler den Spielern abverlangen. Spiele, die einfach nur Bosheit zelebrieren, gibt es abgesehen von kranken Ausnahmen eh nicht: Selbst härteste Mafiaspiele appellieren an die Ganovenehre, und jedes Shooterspiel motiviert das Ballern durch die Verwerflichkeit der Gegner, bei denen es sich fast immer um Klonarmeen, Nazis oder Untote handelt. Niemand fände Gefallen an einem Spiel, in dem das Feuer auf Blauhelmsoldaten oder wehrlose Zivilisten eröffnet würde.

Langsam könnte also selbst der Vatikan eine Vokabel für die elektronischen Spiele in sein "Lexicon Recentis Latinitatis", das Lexikon des heutigen Lateins, aufnehmen. Und Will Wrights Spiel "Spore", im Herbst erschienen, taugt durchaus als Gegenstand für Theologen: Die simulierte Evolutionsgeschichte bedient zwar ein naturwissenschaftliches Weltbild, zugleich versetzt sie den Spieler aber in die Rolle eines Schöpfergottes, der seine Kreaturen entwirft und dann in die freie Wildbahn entlässt, um fortan nur noch gelegentlich in den Lauf der Dinge einzugreifen.

Die künstlichen Paradiese mögen suspekt bleiben - aber das gilt für fast alle Mikrokosmen, in denen die Freiheit regiert. Letztlich leitet sich jedes Computerspiel aus dem uralten Quellcode ab, den die Schöpfungsgeschichte offenlegt.

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