30.11.2010

Der Vorfrühling ist strahlend blau, der Spaziergang ein Vergnügen. Eine kleine Pause mit Blick auf den See. Die Freunde tauschen sich über die Fortschritte der Kinder aus, über Veränderungen im Beruf. Es ist fast unvermeidlich, dass einer darüber sinniert, wie die Zeit vergangen ist. Ja, bald zwanzig Jahre sind es jetzt, seit sie ihr Studium abgeschlossen haben, inzwischen sind sie alle Mitte vierzig. "Und eines Tages werden wir Teil der überalterten Republik sein!" Kurz senkt sich betretenes Schweigen über die Runde, dann kräht Jürgen: "Hey, wir werden die anarchischen Alten sein, das wird cool!" ­ "Genau, für uns keine Schrammelmusik in der Konzertmuschel im Kurort", meint Peter. "Mit weniger als gutem Jazz geben wir uns nicht zufrieden." Das Gespräch wendet sich der neuen Platte von Jamie Cullum zu. Der Spaziergang geht weiter und endet bei warmem Apfelkuchen.

Kinder bekommen zum Zwecke der Altersvorsorge? Niemand denkt so

Jahrelanges Bombardement mit lautstarken, zugespitzten Zurufen "Altenberg!", "Kampf der Generationen!" ­ und demographischen Prognosen haben ein widersprüchliches Ergebnis bei denen hinterlassen, die eines gar nicht fernen Tages diejenigen sein werden, von denen heute die Rede ist: die Spitze des demographischen Wandels. Natürlich wissen sie ganz genau, dass diese Veränderungen ihre persönliche Zukunft stark beeinflussen werden. Aber wie sollen sie diese Perspektive in ihre konkreten Zukunftsplanungen einbauen? Gerade das Alarmistische der Verkünder demographischer Wahrheiten, das Zornige und Verzweifelte vieler Autoren schreckt eher davor ab, diese Veränderungen als gestaltbar zu begreifen.

Inzwischen sitzen die Freunde beim Abendessen zusammen. Klaus informiert die anderen gut gelaunt darüber, dass er bald zum dritten Mal Vater wird. Alle freuen sich, irgendeiner macht die unvermeidliche Bemerkung, dass Klaus und seine Frau damit ihr demographisches Soll übererfüllt haben. Niemand verzieht auch nur einen Mundwinkel angesichts dieses müden Witzes. Die neun ehemaligen Kommilitonen bringen es zusammen immerhin auf die stolze Zahl von 14 Kindern, allerdings sehr ungleich verteilt. Keiner der glücklichen Väter und Mütter hat denen, die ohne Kinder geblieben sind, je einen Vorwurf gemacht. Zwei von ihnen sind homosexuell, eine ist in der entscheidenden Zeit ohne Partner gewesen, eine hat vergebens gehofft. Niemand in der Gruppe hat je darüber räsoniert, dass dies gesellschaftliche Versäumnisse seien. Sie haben es nur als persönliche Lebensgeschichten und Schicksale angesehen.

Was sollen sie anfangen mit einer öffentlichen Debatte, die mit Schuldzuweisungen an verantwortungslose Singles arbeitet? In der 40-jährige Frauen in einer Art bevölkerungspolitischer Mobilmachung dazu aufgefordert werden, noch unbedingt Kinder zu bekommen, um das Schlimmste zu verhindern? Das geht weit vorbei an ihrem Lebensgefühl. Sie haben ihre Kinder nicht wegen der Altersvorsorge bekommen, sondern weil sie das Leben schöner machen. Und die Kinderlosen unter ihnen mussten schmerzhaft lernen, auf dieses Glück zu verzichten.

"Von uns wird keiner mehr mit 65 aufhören können zu arbeiten."

Später am Abend diskutieren einige über Arbeitsmarktprobleme. Schließlich meint Paul: "Von uns wird keiner mehr mit 65 aufhören können zu arbeiten." ­ "Ja, aber wer wird uns dann noch beschäftigen?", fragt Sabine. "Da bin ich sehr unbesorgt, das ist doch ein Gutes an der neuen Entwicklung", meint Jürgen optimistisch. "Man wird uns als Alte wieder brauchen, weil sonst zu wenige zum Arbeiten da sind. Der Unsinn, Menschen mit Anfang 50 in die Rente abzuschieben, wird aufhören." ­ "Aber ich hab doch vor, auf meine alten Tage noch mal Philosophie zu studieren", protestiert Frank, der Wirtschaftsprüfer. "Ja, aber plane das besser erst ab 70 ein", dämpft Petra seine Hoffnungen.

Die heute aktiven Vierzigjährigen haben sich längst in die Aussicht geschickt, länger als ihre Eltern arbeiten zu müssen. Mit Blick auf ihre höhere Lebenserwartung gefällt ihnen diese Aussicht sogar, wäre da nicht die Sorge um den Arbeitsmarkt. Manchmal fragen sie sich, ob sie denn wirklich so lange fit bleiben werden. Außerdem ist da noch die Sehnsucht nach einem Leben jenseits der Hetze. Schließlich sehen sie, dass es bislang nicht gelungen ist, eine Kultur des schrittweisen Abschieds von der Erwerbsarbeit zu etablieren. Wo Altersteilzeit draufsteht, ist doch nur frühere Rente drin. Aber darüber wird nicht öffentlich gesprochen, nur das formale Renteneintrittsalter wird zum Zankapfel.

Die Diskussionen über den demographischen Wandel haben sich zumeist darin erschöpft, die Fakten zu beklagen. Je aggressiver die Aufklärer daherkamen, desto weniger haben sie aber erreicht, dass über die Gestaltung der Zukunft nachgedacht wurde. Was als gesellschaftliche Diagnose erschien, blieb bei individuellen Schuldzuweisungen und der Formulierung eigener Ängste stehen. Aber Angst macht verzagt, damit kann man Herausforderungen nicht annehmen.

Sabine und Petra haben sich etwas abseits gesetzt. Petra erzählt, dass sie sich um eine ältere Freundin kümmert, die durch eine schwere Krankheit hilfsbedürftig ist. Eine allein stehende Frau, deren Freundeskreis überraschenderweise zu einem Netzwerk geformt werden konnte, in dem jeder andere Aufgaben übernimmt. "Ich hätte nie gedacht, dass wir das hinbekommen", sagt sie. "Eigentlich können wir so mehr schaffen als eine Familie. Da ist es ja oft nur die Frau, die die ganze Last trägt." ­ "Aber ist so was denn wirklich verbindlich?" Petra nickt. "Zwar ist eine ausgestiegen, als meine Freundin anstrengender wurde. Aber bei den anderen ist ein hohes Verantwortungsgefühl. Es funktioniert dadurch, dass wir die Aufgaben gut verteilen. Jeder macht nur das, was er oder sie auch schafft. Und dann hilft auch noch ein Pflegedienst."

Die Angst vor der eigenen Hilfsbedürftigkeit ist der am meisten verdrängte Aspekt des demographischen Wandels. Eltern hoffen auf ihre Kinder, allein Stehende denken lieber erst gar nicht darüber nach oder sehen sich nur als "junge Alte". Jeder bekannt gewordene Skandal in einem Altenheim verstärkt die Angst. Gleichzeitig ist die Öffentlichkeit erstaunlich gleichgültig gegenüber diesem Thema. Dass die zukunftsfeste Gestaltung der Pflegeversicherung politisch seit Jahren versäumt wird, regt niemanden auf. Und Rufe nach einer Altenpolitik jenseits der Heime verhallen ungehört.

Wer sagt, dass mit 60 nicht noch eine neue Liebe kommt, die alles verändert?

Petra hat die Verantwortung für ihre Freundin auf die Idee gebracht, die kleine Galerie für Kunst aus dem Wohnviertel, die sie vor zwei Jahren eröffnet hat, zu einem Ort zu machen, an dem Nachbarn Kontakt finden können. Am Anfang waren es Ausstellungen. Ein öffentliches Picknick auf der Straße war ein großer Erfolg. Lesungen und Musik zogen Menschen an. Darüber ist ihre Galerie auch ein Ort geworden, an dem Nachbarn nach Unterstützung fragen, zum Beispiel bei kleinen Reparaturen. Inzwischen sucht sie gemeinsam mit einem Pflegedienst nach Nachbarn, die Aufgaben übernehmen, die die professionellen Pflegedienste nicht bezahlt bekommen. Einfach ist es nicht, so viel Engagement mit ihrem Beruf als Galeristin zu vereinbaren, aber Petra macht weiter. Sie sieht es als Investition in die eigene Zukunft. Und so nimmt sie ihrer Angst vor dem Alleinsein den Schrecken.

Die alarmierenden Bücher sind gelesen, die lauten Fernsehtalkshows gesendet. Jetzt dringt der demographische Wandel einfach und undramatisch in den Alltag ein. Lebensplanungen verändern sich, Neuanfänge sind jetzt auch in einem Alter möglich, in dem frühere Generationen nur noch an den Ruhestand dachten. Neue Netzwerke werden entstehen, weil die Familien zu klein geworden sind. Für manche Menschen wird dieser Prozess mehr vom Zufall als von gezielter Planung bestimmt werden. Wer soll mit Mitte 40 schon voraussehen, wann er nicht mehr laufen kann? Und wer sagt, dass mit 60 nicht noch eine neue Liebe kommt, die alles verändert?

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