"Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder"
Wie gehen die Kirchen mit Kindern um? Die Missbrauchsfälle geben zu denken. Mit jedem zerplatzt der Traum einer unbeschwerten Kindheit. Zufall oder Systemmangel?
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
07.10.2010

In zahlreichen kirchlichen Einrichtungen wurden Hunderte von Kindern und Jugendlichen um ihre unbeschwerte, ungestörte Entwicklung gebracht. Katholische Ordensschulen und Internate treten dabei unrühmlich in den Vordergrund. Auch wenn das offensichtlich mit der großen Zahl der katholischen Orden und ihrer Schulen zu tun hat, fragt sich doch, ob die Vielzahl der Übergriffe auch religiöse Gründe hat. Wurden die Übergriffe der Erwachsenen etwa durch eine bestimmte Sicht auf Bibel und Theologie erleichtert? Oder haben die Übergriffe eher mit den sozialen Rahmenbedingungen des Schulwesens zu tun?

Maßstab aller Ethik ist für die Kirchen das Neue Testament der Bibel. Aus ihm lässt sich keine positive Bejahung von Gewalt, geschweige denn von sexueller Gewalt ablesen. Die Grundlinie der unterschiedlichen Bücher und Briefe heißt hier: Gottes Liebe und Gnade erfasst alle, die sich auf ihn einlassen, Große wie Kleine.

Die Kinder, die in den Erzählungen und Berichten auftauchen, sind allerdings Kinder ohne Kindheit. Kinder in der Zeit Jesu hatten einen grundsätzlich anderen sozialen Stellenwert, als ihnen durch Reformation und Aufklärung, durch moderne Pädagogik und heutiges Familienrecht zugemessen wird. In der Bibel herrschen strenge Verhältnisse: Gott liebt seine Kinder, insofern sie und ihre Eltern treu zu ihm halten. Alles folgt dem einen Ziel: Kinder haben sich in das große Ganze einzufügen. Da geht es ihnen nicht anders als den Erwachsenen - auch sie sind radikal dem Willen Gottes unterworfen.

"Wenn ihr nicht wie die Kinder werdet, kommt ihr nicht ins Himmelreich"

Im Papstbrief an die irischen Bischöfe ist die Rede von den Ursachen des Missbrauchs; dazu zählt der Papst auch die "Tendenz, . . . Autoritäten zu favorisieren". Es mag sein, dass manche Christen, die die Bibel wörtlich verstehen, aus ihr vor allem autoritätsstützende Formulierungen herauslesen. Ein ganzes, schlüssiges Familienkonzept lässt sich allerdings aus Jesu Worten und Handeln nicht entwickeln.

Man muss aber nicht lange suchen, um belegt zu finden: Auch Kindern widerfährt unmittelbar Heil. Heilungs- und Auferweckungsgeschichten machen das deutlich. Zum Beispiel diese: Der Prophet Elija erweckt den Sohn einer Witwe wieder zum Leben (1. Buch Könige 17,17-24). Kinder sind, wie es manchmal den Anschein hat, also nicht nur Statisten in den so viel wichtigeren Erwachsenen- und Heilsgeschichten. Programmatisch ist auch der Satz aus einem Psalm: "Aus dem Mund der Kinder und Säuglinge schaffst du dir Lob" (Psalm 8,3).

Einen großen Stellenwert in der kirchlichen Verkündigung nimmt Jesu Lob der Kinder ein: "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich eingehen." Mit diesem Lob verknüpft er eine Kritik am Autoritäts- und Größenwahn der Erwachsenen. Die hatten Jesus gefragt: Wer wird im Jenseits der Größte sein? Es könnte eine Schlüsselgeschichte bei der Aufarbeitung der gegenwärtigen Missbrauchsfälle sein.

Für Zwang in der Pädagogik gibt es keine theologische Begründung

Die Kirchen Europas waren Vorkämpfer für Bildung und Erziehung. In den Lateinschulen und Universitäten des Mittelalters zogen sie nicht nur den Nachwuchs für ihre eigenen kirchlichen Ämter und Aufgaben heran, sondern versorgten auch Staat und Gesellschaft mit Akademikern unterschiedlichster Prägung. Schon weit vor der Gründung staatlicher Universitäten nahmen die Kirchen eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung wahr. Diese Hochschulen folgten dem Prinzip des offenen akademischen Diskurses, nicht der einseitigen Indoktrination. Mit den Klosterschulen des Mittelalters und erst recht mit dem neuzeitlichen Paradigmenwechsel, der Kinder zu souveränen, Respekt verdienenden Individuen machte, haben die Kirchen unser ganzes Bild von Kindheit und Jugend positiv geprägt.

Bedeutsam für die Analyse der gegenwärtigen Krise sind vor allem die Fragen nach Autorität und Freiheit. Autorität mag als Zwang oder als charismatische Einflussnahme ausgeübt und empfunden werden. Für den Zwang in der Pädagogik gibt es keine theologische Begründung, für pädagogisches Charisma sehr wohl. Die Kirchen und ihre Schulen stehen vor einer neuen Freiheitsdebatte.

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