Ibrahim Mazari und Christine Graf, Foto: Thomas Rabsch
Die Ärztin Christine Graf und der Game-Experte Ibrahim Mazari über alte und neue Vorurteile
Und die Jungs am Computer wollen doch nur spielen! Eine Ärztin und ein Game-Experte über alte und neue Klischees
Tim Wegner
Hanno TerbuykenLena Uphoff
07.10.2010

Ibrahim Mazari: Das ist ja witzig: Auf dieser Aschenbahn war ich als Kind bei den Bundesjugendspielen dabei!

Christine Graf: Iieee, was habe ich die gehasst. Ich hatte in Sport eine Fünf plus.

Herr Mazari, Sie nennen ja auch das, was Sie am Computer machen, Sport - E-Sport. Dabei sitzen Sie da nur vor der Kiste...

Mazari: Ich bin kein professioneller Gamer, aber ich arbeite für eine Firma, die eine Liga bereitstellt. Sport ist aus soziologischer Sicht etwas, das mit Leistung zu tun hat, so wie Schach. Unsere Gamer sind ausgesprochene Sportcharaktere. Sport hat viele Faktoren, die körperliche Aktivität ist nur eine davon.

Graf: Nein! In der Sportmedizin und Sportwissenschaft definieren wir Sport so, dass man schon Energie verbrauchen muss. O.k, das tut man auch beim Denken. Aber Computerspiele sind für mich kein Sport. Angeln, Schach - das heißt doch auch nur Sport. Ich bleibe dabei, man muss sich bewegen.

Mazari: Das ist doch überholt. In China, Südkorea, Bulgarien, vielleicht bald in Italien ist E-Sport längst als Sportart anerkannt. Als die Olympiade in China war, gab es ein E-Sport-Rahmenprogramm. Wir Deutschen sind da noch sehr von Turnvater Jahn geprägt. Unterschätzen Sie nicht mentale Höchstleistungen. Und es gibt eine Fankultur, Zuschauersport, die Medien berichten, Turniere - alles Parallelen zwischen elektronischem und klassischem Sport. Zu unseren Spielen kommen 2000 Zuschauer, die sammeln Autogramme, es gibt Sponsoren!

Was ist E-Sport überhaupt genau?

Mazari: Seit Mitte der 90er Jahre spielt man Computerspiele wettkampfmäßig. Davor konnte man nur gegen den Rechner spielen. Die Motivation ist immer: Ich spiele mit anderen und gegen andere. Und: ich möchte der Beste sein. Die Spitzenspieler werden von den Fans bewundert wie im Fußball. Es ist eine eigene Jugendkultur mit einer eigenen Sprache, ähnlich wie bei den Skatern.

Aber verstecken Sie sich nicht hinter dem Begriff Sport, weil sie nicht zugeben wollen, dass es einfach ums Spielen geht?

Mazari: Nein, das Selbstverständnis dieser Community ist ein sportliches. Wir haben 20 000 Vereine mit über eine Million Mitgliedern, die machen Stadtteilarbeit, Hausaufgabenhilfe - alles wie im klassischen Sportverein.

Graf: Ich finde das extrem gefährlich. Bei "DSDS" und "Germany's Next Topmodel" wollen die Leute auch gewinnen. Da gibt es auch eine Fankultur und eine Riesenmedienblase drum herum. Für mich ist das einfach Lifestyle. Das hat nichts zu tun mit dem, was wir zum Beispiel beim Basketball machen.

Mazari: Warum denn nicht?

Graf: Beim Basketball schwitzt man zusammen. Bei Ihnen hocken die in einer Turnhalle und schwitzen maximal vor Angst. Der gesundheitliche Aspekt fehlt völlig. Es mag Schnittstellen geben. Aber wir bemühen uns hier massiv um echte Bewegung mit Kindern und Jugendlichen - ein ganz wichtiges Alter für die Hirnentwicklung -, dazu muss man auch wirklich aktiv sein.

Mazari: Aber sehen Sie, wir sind doch fast schon anachronistisch: In Zeiten des Internets, wo alles anonym wird, gibt es diesen Drang, sich zu treffen und ein Treffen regelrecht zu zelebrieren! 20 000 Clans treffen sich nicht nur virtuell, sondern in der realen Welt, in Köln, in München, in Hamburg.

Warum braucht der Mensch überhaupt den Wettkampf?

Graf: Der Mensch ist ein Spieltier, er misst sich gern. Jungs mehr Mädchen. Von "Monopoly" bis Fußball-WM: Das ist Teil der menschlichen Natur, es ist auch Teil der Berufswelt. Leider werden die Deutschen insgesamt immer unsportlicher. Sie haben weniger Ausdauer, ihre Koordination ist schlechter. Und die Hürde vom Inaktiven zum Sportler ist unendlich hoch. Ich habe hier junge Patienten, die mehr als 140 Kilo wiegen, für die ist Treppensteigen schon Hochleistungssport. Und das sind auch die Ersten, die sich dann hinter dem Computer verstecken und sagen: Ich mach doch Sport.

Mazari: Aber es ist doch ein Vorurteil, dass Computerspieler übergewichtig und ungebildet sind. Kommen Sie mal zu unseren Events: Die, die intensiv E-Sport machen, machen auch richtigen Sport, sie brauchen das als Ausgleich, gerade weil sie mental beansprucht sind. Natürlich ist körperliche Aktivität wichtig!

Aber der Tag hat nur 24 Stunden - in der Zeit, die Sie vor dem Computer verbringen, machen Sie definitiv nichts anderes.

Mazari: Ich sehe das Fernsehen viel kritischer. Fernsehen tötet jede andere Aktivität. Klar gibt es zu dicke Spieler, aber es gibt noch mehr dicke Fernsehzuschauer.

Graf: Das stimmt. Fernsehen ist eher mit dem Risiko Übergewicht verbunden. Computer kann sogar ein Zugangsweg zu Bewegung für bestimmte Jugendgruppen sein. Trotzdem betonen Sie doch selber den Unterschied zwischen E-Sport und "richtigem" Sport! Und Sie sehen ja auch immer nur die Spieler auf dem Toplevel. Wir haben definitiv ein soziales Schichtenproblem bei Computer und Fernsehen. Kinder ab zwölf sollen nicht mehr als zwei Stunden täglich am Bildschirm verbringen. Alles, was über drei, vier Stunden am Tag hinausgeht, da "explodieren" sie vom Gewicht her. Das ist nachgewiesen. Wir müssen genau hingucken: Bei wem hilft der Computer, an Jugendliche heranzukommen, bei wem ist er eine Sackgasse?

Wie kann E-Sport zur Integration beitragen?

Mazari: Ich habe als Sozialarbeiter im Sauerland mit Aussiedlerfamilien und Jugendlichen mit Migationshintergrund gearbeitet. Diese Kinder sind bei E-Sport unterrepräsentiert. Aber alle spielen gern, das haben wir genutzt. Ich habe gesagt: Macht mal ein Turnier, sprecht die Schulen an, macht ein Programmheft, ladet die Zeitung ein, und die Teams müssen pünktlich kommen. Sie glauben nicht, was die gelernt haben! Sie wurden richtige kleine Eventmanager, haben Schreiben aufgesetzt, andere motiviert, Rechner miteinander vernetzt, sie müssen mit Frust umgehen und sich wieder aufraffen. Mit diesen Gaming-Events habe ich es geschafft, sie zu begeistern. Und gerade in Familien, wo Eltern gar nicht wissen, was die Kinder da spielen, ist die Begleitung in Schulen und Jugendzentren wichtig.

Bei den ausländischen Jugendlichen tut sich ja der klassische Sport auch schwer. . .

Graf: Da hat es der Computer echt einfacher. Die Schwelle ist viel niedriger. Der richtige Sport hat ein echtes Problem, nicht immer weiß man, wie und mit was bestimmte Gruppen zu erreichen sind, nehmen Sie das Beispiel muslimische Mädchen und Schwimmunterricht. Aber ist es bei Ihnen nicht auch so, dass es Gruppierungen gibt, die Sie nie sehen und um die Sie sich auch sorgen müssten? Welche, die zum Beispiel ein Suchtproblem haben?

Mazari: Wir kennen unsere Spieler sehr genau. Unterrepräsentiert sind Mädchen und Jugendliche mit niedriger Bildung. E-Sportler begreifen sich selber als Elite. Ich weiß, dass es Jugendliche gibt, die ihr Spielverhalten nicht im Griff haben. Wenn wir es schaffen, genau die zu gewinnen für den Sportcharakter, dann haben wir schon einen Schritt in die richtige Richtung getan.

Wir haben jetzt immer von den Netten geredet. Es gab aber auch den Fall, dass einer "Counterstrike" gespielt hat und dann Amokläufer in Erfurt wurde.

Mazari: Glauben sie ernsthaft, das hängt zusammen?

Was glauben Sie denn?

Mazari: Natürlich nicht! "Counterstrike" ist eines der beliebtesten Spiele in Deutschland, seit dem Jahr 2000. Millionen Menschen spielen das, jeden Tag. Glauben Sie ernsthaft, dass das eine Begünstigung für Amokläufer ist? Dann würden wir jetzt extrem unruhig leben. Dann würden wir uns fühlen wie in Bogota oder in Johannesburg. Da spielen die Leute aber weniger "Counterstrike", sondern mit richtigen Waffen. Amokläufer, ob in Littleton, USA, oder in Erfurt oder in Winnenden, haben alle eins gemeinsam: Sie waren wirklich psychisch krank. Sie wurden gedemütigt, sie waren in einer existenziellen, für sie selbst bedrohlichen Lage das sind absolute Ausnahmefälle. Da die Mediennutzung verantwortlich zu machen, ist leichtfertig und ganz gefährlich.

Aber es geht um Gewalt, da werden Figuren abgeknallt.

Marzari: Natürlich geht es um Gewalt! Genau wie beim Fußball. Sport, vor allem Wettbewerbssport, ist eigentlich die Zivilisation des Kampfes. Wir schränken das ein und lenken es in Bahnen. Das ist ein guter sportpsychologischer Ansatz.

Sie sind Jugendschutzbeauftragter, der einzige in Ihrem Unternehmen. Braucht man denn noch einen Jugendschutz, wenn man sagt, man kanalisiert die Gewalt?

Mazari: Ich würde ja zum Beispiel auch nicht jeden Rugby spielen lassen. "Counterstrike" ist wunderbar, es macht Spaß, aber es muss altersgerecht passieren. Jugendschutz heißt: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass bestimmte Spiele und Inhalte wirklich nur für die Zielgruppe zugänglich sind.

Graf: Wie wollen sie das garantieren?

Mazari: Passkontrolle!

Graf: Schön und gut, die Passkontrolle, aber woher wissen Sie, wer sonst noch alles da sitzt außer dem, der sich angemeldet hat?

Viele junge Männer haben heute virtuell schon Hunderte von Menschen getötet. Wenn die zur Bundeswehr gehen - haben die nicht ein komisches Bild vom Krieg?

Mazari: Ich habe mit Offizieren gesprochen, die sagen: Gamer sind weit entfernt von militärischer Disziplin oder Waffennarrheit. Im Gegenteil: Die meisten "Counterstrike"-Spieler" sind Zivildienstleistende, die sind eher in der evangelischen Jugendarbeit zu finden. Die Leute spielen einfach eine Runde "Räuber und Gendarm".

Graf: Wäre es nicht schöner, die würden richtig "Räuber und Gendarm" spielen? Digitales "Räuber und Gendarm": da wird mir ganz schlecht. Wir haben so ein Problem damit, die Jugendlichen dazu zu bringen, rauszugehen. Nicht die Elite, aber die anderen. Sie hocken nur drinnen, haben keine sozialen Kontakte mehr. Ich sehe die, und zwar nicht mal den Bodensatz, sondern die, die immerhin noch bei uns in Programme gehen, weil sie 120 oder 140 Kilo wiegen. Und das sind nicht nur sozial Schwache, sondern auch sozial verwahrloste Gymnasiasten. Genau diese Isoliertheit kann schon gefährlich sein, und wir müssen noch verantwortungsvoller damit umgehen. Da muss bei jedem Einloggen klar sein, wer da kommt.

Mazari: Wir haben jetzt das klassische Problem: Es wird wieder was verteufelt.

Graf: Ich verteufele nichts!

Mazari: Doch, Sie stellen es so dar, als ob das hochgefährlich wäre. Die Diskussion um die Abschaffung der Medien ist uralt, die gab's doch auch schon beim Fernsehen, bei Comics, bei Büchern. Früher waren die Comics für die Verfettung und Verdummung der Leute zuständig . . .

Graf: Ich verstehe ja Ihren Zorn, aber ich habe nur ein genaues Hingucken eingefordert. Für mich ist es nicht ausreichend, was sie mir hier als Altersbegrenzungen gesagt haben.

Mazari: Sie sehen natürlich die Risiken, das ist ja auch klar.

Graf: Aber es gibt nicht nur Risiken. Mit "Wii Fit" zum Beisplie...

Ist "Wii Fit" wirklich Training, echter Sport?

Graf: Ja. Ich finde es eigentlich pervers, echtes Sporteln würde ich auch immer bevorzugen - aber für bestimmte Gruppen eben auch super. Es verbraucht Kalorien, es steigert die Leistungsfähigkeit. Es ist eine Möglichkeit, vor allem diejenigen zur Bewegung zu bringen, an die wir sonst nicht herankommen.

Mazari: Lassen sie uns doch das Wertvolle sehen, ohne die Risiken zu vergessen. Das ist ein Generationenproblem, es ändert sich im Laufe der Zeit, in der Politik, in der Gesellschaft. In den 60er Jahren wurden Sie von der Polizei aus der Stadthalle geprügelt, wenn Sie bei einem Rolling-Stones- oder Beatles-Konzert waren. Und heute geht der Bundespräsident zum Rolling-Stones-Konzert.

Und irgendwann spielt Herr Wulff "Counterstrike"?

Mazari: Ja.

Jetzt mal ehrlich: Wollen das die Jugendlichen? Die sind doch schon genervt, wenn wir die gleiche Musik hören und die gleichen Turnschuhe tragen.

Mazari: Zur Jugendkultur gehört natürlich auch, dass es eine eigene Sprache gibt, dass man sich abgrenzt. Aber wo wollen sie in der heutigen Gesellschaft noch schockieren? Ich glaube, es ist nicht gut, dass wir grundsätzlich das Thema Gewalt absolut tabuisieren, das hat etwas mit unserer Geschichte zu tun. Es ist eine Scheindiskussion, denn wir reden nur über virtuelle Gewalten. Wir sollten fragen, wo die reale Gewalt ist. Wo ist die Ungleichheit? Wo werden Leute gedemütigt? Wo passiert das, was Leute schwach macht, sie sozial isoliert? Da müssen wir eingreifen.

Graf: Da haben Sie recht. Aber ich glaube trotzdem, dass man für Computerspiele bestimmte Regeln einführen muss. Wie vermitteln sie denn die? Wenn ihre User vor allem Jugendliche sind, brauchen wir ja eigenlich Lehrer, die den Umgang mit diesen Medien beherrschen, und kundige Eltern. Was tun Sie dafür?

Mazari: Wir haben ein Programm mit der Bundeszentrale für politische Bildung und der Fachhochschule Köln: Eltern-LAN. Da lernen Eltern zusammen diesen E-Sport-Gedanken kennen, sie erleben die Spiele selbst.

Eltern-LAN - würden Sie als Mutter da hingehen, Frau Graf?

Graf: Ehrlich gesagt, wenn es sich vermeiden lässt nein. Wieso muss ich lernen, wie es ist zu schießen, auch virtuell? Da würde ich lieber laufen gehen, aber echt und im Wald. 

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