"My dear Christian friends in East Berlin"
Grenzübergang "Checkpoint Charlie", am 13.9.1964 fährt Dr. Martin Luther King vor.
07.10.2010

Grenzübergang "Checkpoint Charlie", 13. September 1964. Eine Limousine mit amerikanischem Kennzeichen hält an der Schranke. Im Fond des Wagens sitzen ein dunkelhäutiger Mann und seine Frau. Die Wachen erstarren: Es ist der weltberühmte Bürgerrechtler Martin Luther King, damals 35 Jahre alt, der vor gut zwei Stunden noch zum "Tag der Kirche" vor mehr als zwanzigtausend Menschen in der Westberliner Waldbühne gesprochen hat. Er werde in der Hauptstadt der DDR erwartet, sagt King, habe jedoch - ebenso wie seine Frau - leider keinen Ausweis bei sich. Niemand hat den Grenzern diesen Besuch angekündigt. Dem Soldat steht der Schweiß auf der Stirn. Er bittet um Geduld, verschwindet dann mit schnellen Schritten im Abfertigungsgebäude. Es dauert eine gute halbe Stunde, bis er zurückkehrt. Die Dame müsse leider aussteigen. Für den Herrn Pfarrer werde man eine Ausnahme machen. "Irgendwie" müsse sich der Amerikaner allerdings beim Grenzposten legitimieren. "Reicht Ihnen das?", fragt King und zeigt ihm seine Kreditkarte ("American Express") vor. Der Grenzer nickt. Dann öffnet sich die Schranke.Am Tag zuvor, einem Samstag, war Martin Luther King auf dem Flughafen Tempelhof gelandet, empfangen von einem Riesenaufgebot an Reportern, Fernsehkameras und Mikrofonen. Sonntagmorgen erfuhr er dann von einem Zwischenfall an der Mauer. Kurz nach Sonnenaufgang hatten sich in der Nähe der Grenzübergangsstelle Heinrich-Heine-Straße ostdeutsche Grenzer mit Westberliner Polizisten und amerikanischer Militärpolizei ein Feuergefecht geliefert. Eine gute halbe Stunde knatterten automatische Gewehre in Kreuzberg.

Der Bürgerrechtler nahm die Einschusslöcher in Augenschein

Es war der schwerste Zusammenstoß an diesem Mauerabschnitt seit der Ermordung des Ostberliner Bauarbeiters Peter Fechter im August 1962. Im Verlauf der Schießerei war es einem amerikanischen Soldaten gelungen, einen von fünf Kugeln schwer verletzten 21-jährigen DDR-Flüchtling mit einem Seil über die Mauer in den Westen zu ziehen, während Volksarmisten mit Stahlhelmen die Laufgräben im Todesstreifen besetzten und sich zwei ostdeutsche Schützenpanzerwagen bedrohlich in Position brachten.

Martin Luther King eilte sofort an den Ort des Geschehens. Der Bürgerrechtler nahm die Einschusslöcher in einer Westberliner Hauswand in Augenschein und besuchte auch eine Wohnung auf der westlichen Seite der Grenze, in der Einschüsse einen Teil der Einrichtung zerstört hatten. King war erschüttert, einem Reporter sagte er: "Das ist unfassbar." Später erklärte er in einer Pressekonferenz, der Vorfall zeige, wie wichtig die internationale Entspannung sei. Die Methode des gewaltlosen Widerstandes könne überall funktionieren, aber: "Es gibt für die einzelnen Gebiete und Länder keine Rezepte der Anwendung. Ich jedenfalls weiß für Ihr Land kein solches Rezept." Später am Tag überquert King dann unangemeldet den Checkpoint Charly.

Was Pfarrer Gerhard Schmitt, damals 54 Jahre alt, an jenem Sommerabend erlebt, wird er bis an sein Lebensende nicht vergessen. Nur ein paar Schritte vom Roten Rathaus entfernt, vor dem Eingang der altehrwürdigen Marienkirche, drängen sich Trauben von Menschen. Es müssen mehr als tausend sein.

"Ökumenischer Gottesdienst" mit Dr. Martin Luther King

Der frisch ernannte Generalsuperintendent für Ostberlin bahnt sich nur mühsam einen Weg ins Innere seiner Kirche, vorbei am Eingang, in dem eine Tafel mit Steckbuchstaben den "Ökumenischen Gottesdienst" mit dem berühmten Amerikaner ankündigt. Auch hier ist alles voller Menschen, die dicht gedrängt erwartungsvoll miteinander tuscheln - darunter auffallend viele Jugendliche, die sich normalerweise eher selten in das Gotteshaus verirren und von dem berühmten Besucher aus dem Westfernsehen erfahren haben.

Erst vor wenigen Tagen hat Gerhard Schmitt seine evangelischen und freikirchlichen Amtsbrüder in Ostberlin dazu aufgefordert, in ihren Gemeinden intensiv für den Besuch des Amerikaners zu werben. Etwas mulmig war ihm schon bei dieser Sache, zumal es weder Plakate noch Ankündigungen in der Presse gab. Andererseits: Schmitt - der Patenonkel von Joachim Gauck - ist ein Mann, der aus seiner Abneigung gegen das SED-Regime kein Geheimnis macht.

Die Beziehungen zwischen der Kirche und der DDR-Führung unter Walter Ulbricht waren damals ohnehin nicht die besten. Fünfzehn Jahre nach der Staatsgründung hatte die erwünschte Säkularisierung noch keine spürbaren Auswirkungen hinterlassen. "Im Gebiet der Sowjetzone gehören nach den jüngsten verfügbaren statistischen Angaben rund 80,2 Prozent der Bevölkerung der evangelischen Kirche an", hatte der Westberliner "Tagesspiegel" berichtet.

Gotteshaus wegen Überfüllung geschlossen

Mehrfach ließ der greise ostdeutsche Staats- und Parteichef seinen Geheimdienst für antikirchliche Aktionen ausrücken. Im Herbst 1963 sperrte man den damaligen Pfarrer der Marienkirche ins Gefängnis. Man warf ihm "fortgesetzten Menschenhandel" und die Unterstützung des Westberliner Büros der CIA vor. Mitarbeiter der Volkspolizei und des Staatssicherheitsdienstes durchwühlten ohne Erlaubnis kirchliche Amtsräume und drangen auf der Suche nach ausländischen Pässen in die Gruft des Gotteshauses ein.

Nun wird Gerhard Schmitt von Dutzenden Spitzeln überwacht, darunter etliche hauptamtliche Mitarbeiter aus dem Mielke-Ministerium und kirchliche Zuträger. Anderenorts geht das SED-Regime in diesen Monaten mit der Abrissbirne gegen jahrhundertealte Kirchengebäude vor. Sie müssen im Rahmen der "sozialistischen Neugestaltung" der Innenstädte verschwinden.

Vor der Marienkirche ist die Menschenmenge unüberschaubar groß geworden, obwohl der Gottesdienst erst in einer Stunde beginnen soll. Gerhard Schmitt in seinem schwarzen Lutherrock mit dem silbernen Kreuz auf der Brust verschafft sich vor dem Hauptportal der Kirche Gehör. Er müsse das Gotteshaus wegen Überfüllung schließen, erklärt er den wartenden Menschen. Wegen des großen Andrangs werde Dr. King heute Abend aber noch einen weiteren Gottesdienst in der nahe gelegenen Sophienkirche abhalten, kündigt er an.

Sophienkirche, vor der Predigt, links Generalsuperintendent Gerhard Schmitt. Foto: Mein Foto

"Let my people go"

Schon drängen etliche Männer und Frauen in Richtung der Hackeschen Höfe. Da nähert sich die Limousine. In Sekundenschnelle ist der Wagen umringt. "Mit Mühe" gelingt es Schmitt, wie er in seinen unveröffentlichten Memoiren schreibt, den prominenten Gast und seinen Dolmetscher, den in Westberlin lebenden amerikanischen Pfarrer Ralph Zorn, durch die Menschenmassen in die Marienkirche zu schleusen. Ein Teilnehmer erinnert sich, dass es an jenem Abend in der Marienkirche so eng gewesen sei, dass man in dem riesigen Kirchenraum "kaum noch Luft" bekommen habe.

In seiner Begrüßung sagt Schmitt, dass es vor Gott keinen Wertunterschied zwischen Schwarz und Weiß gebe, und fügt hinzu: "Wir wissen um unsere Schuld als deutsches Volk. Aber wir haben auch einen besonderen Nerv dafür bekommen, im Völkergeschehen darauf zu achten, wenn irgendwo auf der Welt Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder auch ihres Glaubens um ihre Rechte und Menschenwürde kämpfen müssen." Das sind klare Worte, die Schmitt einen weiteren Eintrag in seine Stasiakte sichern. Im Ministerium für Staatssicherheit hält man ihn schon lange für eine der "reaktionärsten Kräfte innerhalb der Landeskirche".

Als Schmitt verstummt, richten sich alle Blicke auf den Amerikaner. Gebannte Stille in der imposanten, dreischiffigen gotischen Hallenkirche. King sagt: "My dear Christian friends in East Berlin." Da setzt plötzlich der Kirchenchor ein und laut ertönt der Spiritual "Go down Moses", in dem sich immer wieder der Satz "Let my people go" wiederholt: "Lass mein Volk fortziehen." Dann wird es wieder ganz still. Er überbringe Grüße aus West-Berlin und aus Amerika, sagt King. Er sei zu kurz in Berlin und wisse zu wenig, um sich zu trauen, "das Wort Gottes für Eure Situation" zu sprechen. "Es ist wahrhaftig eine Ehre, in der Stadt zu sein, die Symbol der Teilung durch Menschen auf dieser Erde ist. Hier sind auf beiden Seiten der Mauer Gottes Kinder, und keine durch Menschenhand gemachte Grenze kann diese Tatsache auslöschen."

Die Leute stehen auf den Gängen, sitzen auf der Barriere der Empore, hocken um Altar und Taufbecken

Dann spricht er über das Leben der Afroamerikaner. Er berichtet von der Näherin Rosa Parks, vom "Montgomery Bus Boycott" und vom gewaltfreien Widerstand seines Vorbilds Gandhi. Es ist der gleiche Text, den er schon in der Waldbühne vorgetragen hat. Die Gemeinde lauscht in gebannter Stille. "Überall, wo Menschen die trennenden Mauern der Feindschaft abbrechen, da erfüllt Christus seine Verheißung", sagt King und fügt hinzu: "In diesem Glauben können wir aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung hauen. In diesem Glauben werden wir miteinander arbeiten, miteinander beten, miteinander für die Freiheit aufstehen in der Gewissheit, dass wir eines Tages frei sein werden."

Als das letzte Hallelujah verklungen ist, ergießt sich ein Strom von Menschen, die zu Fuß zur Sophienkirche eilen, um auch den zweiten Gottesdienst mitzuerleben. Andere bleiben, zu Dutzenden, um Autogramme zu ergattern, Fragen zu stellen, oder Hände zu schütteln. Frauen drängen nach vorn. Sie umarmen den Amerikaner, es entsteht ein undurchdringliches Knäuel an Leibern. "Come again - please! ", ruft einer. Der Bürgerrechtler im schwarzen Anzug, mit grau gestreifter Krawatte - geht geduldig auf die ihn umgebenden Menschen ein, während Kameras klicken und suchende Hände in die Luft ragen.

Inzwischen drängen sich auf den seitlichen Emporen der nahe gelegenen Sophienkirche schon die Menschen. Es grenzt an ein Wunder, dass sie nicht einstürzen. Die Leute stehen auf den Gängen, sitzen auf der Barriere der Empore, hocken um Altar und Taufbecken. Einige haben ihr Abendbrot mitgebracht und packen es aus. Als King schließlich mit einiger Verspätung erscheint, schmettern ihm Choräle entgegen. Menschen applaudieren, während er mit federndem Schritt auf die Kanzel klettert.

Es bleibt sein einziger Besuch hinterm Eisernen Vorhang

Anschließend begibt sich King im kirchlichen Mercedes in das Evangelische Hospiz am Bahnhof Friedrichstraße. Im Restaurant des Hotels sitzen die Kirchenleute im kleinen Kreis dicht gedrängt beisammen. Weinflaschen werden entkorkt, ein Imbiss gereicht. Bald schon liegt Zigarrenqualm in der Luft, es herrscht eine fröhliche und gelockerte Stimmung. Missions-Direktor Gerhard Brennecke ist gar nicht zu bremsen, und auch Gerhard Schmitt blüht förmlich auf, als zu später Stunde seine hübsche Tochter erscheint, um den Amerikaner nach einem Autogramm zu fragen. Der Bürgerrechtler ist inzwischen so erschöpft, dass er jeden Moment einzuschlafen droht, doch dafür reicht seine Energie noch -Gesche erhält das begehrte Stück Papier, sogar mit Widmung.

Erst kurz vor Mitternacht steigt King wieder in seine Limousine, um durch die Friedrichstraße über den Checkpoint Charlie zurück ins noble Gästehaus des Berliner Senats am kleinen Wannsee zu gelangen. Es bleibt sein einziger Besuch hinter dem Eisernen Vorhang - am nächsten Morgen sitzt er schon im Flieger nach München. Einen Monat später, Mitte Oktober 1964, wird in Oslo verkündet, dass King den Friedensnobelpreis erhält.

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