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Nur noch dieser Sommer
Sie kauft sich neue Sommerklamotten, er wünscht sich von seinen Freunden einen Krimi statt Krebsbücher. Was machen Menschen, die nur noch wenig Zeit zu leben haben?
Tim Wegner
07.10.2010

Neulich stand Maike Sömmerda* am Grab eines Freundes. Erst sechs Wochen zuvor war bei ihm Krebs festgestellt worden.

Da überlegte Maike Sömmerda, ob das nicht besser sei, wenn es so schnell geht. Sie hat seit vier Jahren Krebs. "Das ist so anstrengend, sich damit auseinanderzusetzen. Weil ich so viel Angst habe."

"Das ist so anstrengend, sich damit auseinanderzusetzen. Weil ich so viel Angst habe"

Krank sieht die 48-Jährige nicht aus, schon gar nicht todkrank.

Ein weiches Gesicht, umrahmt von einer Kurzhaarfrisur. Nur wenn sie sich am Kopf kratzt und dabei der Haaransatz einen Zentimeter in die Stirn rutscht, kann man sehen: Sie trägt Perücke. Maike Sömmerda legt die Beine hoch und entschuldigt sich für ihre bequeme Frotteehose: Ihre Beine seien so geschwollen, wegen der Metastasen in den Lymphknoten.

Sie hatte eine Hausarztpraxis - "meine kleine Welt, wo ich glücklich war". Trotz all der Kranken in ihrer Praxis hatte sie nie darüber nachgedacht, wie ihr eigenes Leben zu Ende gehen würde: "Ich dachte, ich lebe ewig, es geht immer weiter."

Doch mit 44 bekam sie plötzlich starke Blutungen. Noch während sie auf dem gynäkologischen Stuhl lag, meinte der Arzt vom Mikroskoptisch her: "Eins kann ich Ihnen gleich sagen: Das ist Krebs." Muttermundkrebs, und auch Lymphknoten waren bereits betroffen. Wie sie vom Stuhl kam, weiß sie nicht mehr. Im Auto weinte sie nur noch. Es war wie ein Sturz aus dem Paradies der Unsterblichkeit.

Die Chancen standen 50 : 50. Von 100 Menschen mit dieser Krankheit in diesem Stadium überleben 50 die nächsten fünf Jahre. Zu welcher Gruppe würde Maike Sömmerda gehören? Für sie war klar: Halbe Chance ist fast schon gewonnen. Und tatsächlich: Operation, Bestrahlung, Chemotherapie vernichteten den Krebs. Sie arbeitete wieder, ging ins Fitnessstudio, mit ihrer Tochter in die Großdisko - "um auch das mal erlebt zu haben" - , war einfach glücklich.

Die neue Prognose: 20 : 80

Dann tauchten Metastasen in weiteren Lymphknoten auf. Die neue Prognose: 20 : 80. Maike Sömmerda bekam erstmals richtig Angst. Sie kannte nur ein Leben, in dem man Pläne machen und mit ihrer Verwirklichung rechnen kann. Und jetzt?

In Internetforen erzählen Kranke einander, wie sie mit solchen Prognosen umgehen. Der eine überlegt, ob er wirklich noch eine Riester-Rente abschließen soll. Eine andere plant nur noch "kleine Zukünfte": Kino mit Freunden nächste Woche, eine Feier im nächsten Monat. Die Dritte, mit Krebs in mehreren Organen, kauft sich, jetzt erst recht, neue Sommerklamotten.

Der Krebsspezialist sagte zu Maike Sömmerda: "Heilbar ist das nicht, aber wir machen erst mal drei Chemos." Die Patientin verstand: "Okay, ich werde zwar nie mehr gesund, aber ich kann damit leben." Noch lange leben. Jetzt macht sie seit Jahren ununterbrochen Chemotherapie. Und bei jeder Untersuchung werden mehr Metastasen entdeckt, zuletzt in der Leber. Es ist ein langsamer Verlauf, aber ein Verlauf.

Wie lebt man, wenn die Zeit knapp wird? Arbeit hinschmeißen, Ersparnisse auf den Kopf hauen, Weltreise machen? So stellen sich das die noch Gesunden vor. "Als ob die Drohung es leichter machen würde, das zu tun, was man immer tun wollte, aber nicht getan hat", sagt die Psychologin Dagmar Kürschner von der Hamburger Krebsberatung. "Nein, nur die, die immer viel gereist sind, brechen jetzt zu einer Reise auf."

Wenn Geld völlig egal wäre, wohin würde Maike Sömmerda reisen?

Wenn Geld völlig egal wäre, wohin würde Maike Sömmerda reisen? "Ein paar Tage auf eine Ostseeinsel." Die Behandlungen schlauchen, da denkt man nicht an Honolulu. Und es ist zu viel zu tun. Sömmerda ordnete alle Versicherungs- und Bankunterlagen, damit ihr Mann und die gerade flügge gewordene Tochter sich zurechtfinden. Sie suchte nach einem Käufer für ihre Praxis, räumte zu Hause die Schränke auf, verschenkte viel. Und will ansonsten ihr Leben weiterleben. Sie will Normalität, bis zum Schluss.

Wenn nur Normalität so einfach zu haben wäre. Eine schlechte Diagnose ändert alles. Sie überrascht auch alte Menschen.

Severin Holzer*, früher "kommunistischer" - darauf legt er Wert - Buchhändler, hatte sich sein Sterben ganz anders vorgestellt: "Wenn ich nicht mehr kann, gehe ich auf den Peloponnes und verliere mich in Gottes weiter Natur." Krankheit, so was war nicht vorgesehen. Und jetzt kommt der 74-Jährige aus der Röntgenpraxis und sagt zu seiner Frau: "Die haben einen Tumor gefunden." Einen kleinzelligen Lungenkrebs. Holzer ist erschüttert. Jetzt hat tatsächlich Freund Hein die Tür für ihn aufgemacht.

"Es geht nicht darum, etwas schön zu machen."

Seine Frau möchte es ihm schön machen. Bereitet ein schönes Essen, möchte ein schönes Buch mit ihm lesen, legt ihm seinen geliebten Mozart auf. Er sagt: "Es geht nicht darum, etwas schön zu machen." Dann verkriecht er sich in seinem Zimmer. Den einen Abend können sie sich traulich unterhalten, den anderen ist alles zerfranst.

Dabei läuft die Zeit. Ohne Behandlung hat Holzer noch zwei bis sechs Monate zu leben. Mit Behandlung länger, vielleicht ein Jahr. Und dann entschließt er sich für die Chemotherapie. Er, der immer eine tödliche Medikamentendosis in der Schublade hatte, will nun doch noch ein wenig Zeit - "Zeit für meine Lieben".

"Zeit für meine Lieben"

Ein wahrer Strom von Besuchern zieht durch die kleine Wohnung. Holzers Frau kocht für ganze Tischrunden, berichtet in "Telefonarien" den Freunden und Verwandten, wie es Holzer geht, brüht Kanne um Kanne Kaffee. Nur wenige der gemeinsamen Freunde fragen, wie es ihr geht, kaufen mal ein oder bekochen sie. Stattdessen schenken sie ihr Krebsbücher. Dabei wäre ihr ein Krimi lieber, "mit einem richtig wüsten Verbrechen, irgendwas, was mit meinem Leben gar nichts zu tun hat".

Severin Holzer nimmt Abschied von seinen Heerscharen, intensiv und aufwendig, bis hin zum Egoismus. Er trifft sich mit seiner Exfrau, kommt belebt nach Hause und sagt: "Theoretisch hätte ich mich damals nicht von ihr trennen müssen." Schreit seine Frau: "Waren die 20 Jahre mit mir vielleicht ein Irrtum?" Schreit er zurück: "Nein, das hat alles seine Logik."

Wenn die Zukunft schrumpft, schaut man zurück. Man versucht, im gelebten Leben die gute Gestalt zu finden. Doch gegen dieses Streben nach Ganzheit erhebt sich Protestgeschrei. Es sind die ungelebten Möglichkeiten, die sich, sagt der Heidelberger Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs, "in den Nischen und an den Abzweigungen des Lebenslaufs eingenistet haben und deren Stunde nun gekommen zu sein scheint: Soll das alles gewesen sein?"

Versäumtes, von der widrigen Realität Verweigertes, sich selbst Versagtes - unvermeidlich bleiben wir hinter unseren Möglichkeiten zurück. Unvermeidlich übertrifft die Fülle des nicht Gelebten das kleine Reich des wirklich Gelebten.

"Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, dann ..."

Von diesem Gedankenspiel kursieren im Internet einige Versionen, verfasst von Menschen kurz vor ihrem Tod. "Ich würde Freunde zum Essen einladen, auch wenn der Teppich fleckig und das Sofa verschossen ist" - "Ich würde früher im Jahr anfangen, barfuß zu laufen, und später im Herbst damit aufhören" - "Ich würde nicht mehr über Kleinigkeiten klagen" - "Wenn meine Kinder mich heftig küssen wollen, würde ich nie mehr sagen: Später, geh jetzt und wasch dir die Hände, wir essen gleich" - "Ich würde den Dingen ihren Lauf lassen".

Man könnte hadern. Doch jeder Tag des Haderns fügt dem ungelebten Leben einen weiteren Tag hinzu. Und die verbleibende Lebenszeit wird in den Strudel der Entwertung gerissen: eh alles sinnlos. Die Möglichkeiten zu ergreifen, die noch bleiben, ist hohe Lebenskunst.

Am 13. Februar 2016 ist Reinhard Fißler gestorben.

Ein Künstler in diesem Sinn ist Reinhard Fißler, 59, eine Legende des DDR-Rock. Er hat Amyotrophe Lateralsklerose, eine Krankheit, bei deren bloßer Vorstellung Gesunde ausrufen: "Wie furchtbar! " ALS ist eine Nervenkrankheit, die allmählich alle Muskeln lähmt: die Arme, die Beine, die Zunge. Zuletzt bewegen sich nur noch die Augen.

Ein Reihenhaus in Berlin-Köpenick, die Haustür ist angelehnt.

Pfleger kommen und gehen. Rund um die Uhr muss jemand da sein. Mitten im Zimmer das Krankenbett. Die Restbestände einer normalen Wohnzimmereinrichtung sind an die Wände gerückt. Bewegungslos liegt Reinhard Fißler unter einer Decke mit verwaschenen blauen Blumen. Seine langen welligen Haare hängen hinten über den Kopfkissenrand. Ein gleichmäßiges Atmen geht durch den Raum - die Beatmungsmaschine, die Fißler über ein Loch vorn am Hals Luft in die Lunge pumpt. Nur für ein, zwei Stunden am Tag wird er abgestöpselt, damit er sprechen kann.

"Ich mache nur noch eben die Flötenstimme fertig." Fißler arbeitet. Vor seinem Gesicht hängt ein Flachbildschirm, daran eine Kamera, die seine Augenbewegungen aufnimmt. Er fährt jede Note, jeden Buchstaben einzeln mit den Augen an und gibt dann durch Wimpernschlag den Befehl.

Es fing damit an, dass Fißler seine Gitarre nicht mehr halten konnte. Überarbeitet, dachte er. 2000 war das. Die Stern-Combo Meißen hatte sich mit ihm als Sänger wiedergefunden, er engagierte sich in einem Kinderzirkus, war glücklich in einer neuen Beziehung mit Kind, unbeschwert und voller Elan. "Ich hatte eine Pferdenatur und war überzeugt, dass mir nichts weiter passieren könnte."

Nun wartet seit einem Jahr jeder, dass der Balladensänger die Stimme verliert.

Dann brauchte er beide Hände, um ein Glas zum Mund zu führen, trank Bier schließlich mit dem Strohhalm und trat endlich auch im Rollstuhl nicht mehr auf, weil er die Töne nicht mehr halten konnte. "Dabei war ich mal der Brüller der Rockszene", sagt Fißler und grinst ein wenig. Denn eigentlich war er bekannt als Balladensänger. Nun erwartet seit einem Jahr jeder, dass Fißler demnächst die Stimme verlieren wird.

"Aber ich gebe mich nicht auf", sagt Reinhard Fißler. Er komponiert, er dichtet, berät Kollegen, er hört seinen Pflegern zu, wenn sie Probleme haben, bringt seiner 16-jährigen Tochter Gitarrespielen bei. "Je weniger ich kann, umso mehr habe ich das Bedürfnis, noch was Gutes zu tun." Er räuspert sich: "Moment, ich muss mich absaugen lassen." Ein junger Pfleger stochert mit der Kanüle im Luftröhrenschnitt, um die Bronchien von Sekret zu befreien.

Der Patient bekommt nasse Augen, der Pfleger tupft sie ihm ab. Dann setzt Fißler das Gespräch fort: "Ich kann immer noch was geben, das führt dazu, dass ich mich relativ gesund fühle." Er sei zwar nicht besonders gläubig, "aber wenn man anderen Menschen was Positives gegeben hat, denke ich, dann ist man auf jeden Fall angenommen bei, sagen wir mal: dem Herrn". Ist man denn niemand mehr, wenn man nichts Gutes tun kann? Da muss er nachdenken. Doch, räumt er schließlich ein.

Seit über einem Jahr besucht ihn eine ehrenamtliche Sterbebegleiterin der Berliner Malteser. Über den Tod sprach Fißler noch nie mit ihr, stattdessen erzählte er ihr sein Leben, von Anfang an. Wie die Eltern in den Westen gingen und ihn bei den Großeltern zurückließen. Da war er drei.

Die Eltern haben sich ihm nie erklärt, nie ihn um Verzeihung gebeten. Unregelmäßig kamen Westpakete, zu einzelnen Lebensetappen eine gewisse Anerkennung: Schön, dass du jetzt dein Studium machst, schön, dass du eine Familie hast ... mit besten Wünschen. Die Eltern sind beide früh an Krebs gestorben. "Es war ein Trauma", sagt Reinhard Fißler, "aber ich habe meine Eltern nie dafür gehasst. Komischerweise."

"Ich habe mein Leben phasenweise nicht richtig gelebt."

Ihn trieb in letzter Zeit anderes um. "Ich habe mein Leben phasenweise nicht richtig gelebt. Ich war unaufmerksam, hab mich als was Besseres gefühlt, hab andere herabgewürdigt, ich war ein Arschloch." Der Musikerkarriere zuliebe verließ er seine Frau und die drei Kinder. Mit der Band stritt er sich über das künstlerische Niveau. 1982 warf ihn die Band raus, die Kollegen kündigten ihm die Freundschaft. "Wie ein Messer, das durch die Luft fliegt und mich trifft. Da geht einer auf Distanz. Und man begegnet sich nicht wieder."

Reinhard Fißler hat Tränen in den Augen. Denn gerade hat er sich "einfach mal so" bei ein paar Bandmitgliedern gemeldet: "Wie geht's dir denn so?" Und dabei erfahren, "dass bei den meisten die Tür nie richtig zu war". Wie hatten sie miteinander gekämpft! "Dieser blöde Kerl, diese ganze blöde Situation! Das ist alles nicht mehr relevant. Ich finde richtig Frieden mit denen." Fißler ist erschöpft. Der Pfleger stöpselt ihn wieder an die Beatmungsmaschine.

Maike Sömmerda, die krebskranke Ärztin, liegt auf ihrer Couch und denkt nach. Viel aufzuräumen habe sie nicht, findet sie. Sie plagt ein ganz anderes Problem. "Ich habe unwahrscheinlich abgebaut im letzten halben Jahr." Sie sehe, wie sie schwächer werde. Aber ihr Mann sehe das nicht so. "Ach, du kannst doch noch 20 Jahre leben", sagt er, der Optimist. Er hält die medizinischen Möglichkeiten noch lange nicht für ausgeschöpft.

"Für mich wäre es besser, der andere akzeptiert, dass mein Leben endlich ist. Damit ich mich ernst genommen fühle, mitsamt meiner Angst." Jetzt geht sie regelmäßig zu einer Psychoonkologin. Diese Praxis sei der einzige Ort, wo sie nicht stark sein müsse, wo sie über ihre Ängste sprechen könne, ohne jemanden zu belasten.

Ihre größte Angst: "Dass ich im Endstadium im Bett liege wie ein Häufchen Elend."

Ihre größte Angst: "Dass ich im Endstadium im Bett liege wie ein Häufchen Elend. Ich kann mir nicht selber was zu essen machen, ich kann nicht selber zur Toilette gehen, und das Allerschlimmste: Ich kann mich nicht selber waschen."

Natürlich, ihr Mann sei sehr hilfsbereit, mache alles, um was sie ihn bitte. Aber er komme eben nicht von selber und frage: "Brauchst du was?" Wenn es ihr richtig schlecht gehen wird, sagte sie neulich zu ihm, dann müsse sie ins Hospiz. Er war betroffen: "Nein, dann nehme ich unbezahlten Urlaub! " Darauf sie: "Es kann aber sein, dass du mir den Hintern abwischen musst." Dann sprachen sie von etwas anderem.

Ganz langsam tastet sich Maike Sömmerda an die Vorstellung heran, dass sie irgendwann hilflos sein wird, angewiesen auf andere. Sie weint.

Tränen, die ihre Psychoonkologin aushält. Tränen, die auch ehrenamtliche Sterbebegleiter und Sterbebegleiterinnen nicht durch Tröstungsversuche abwehren müssen. Es sind viele Menschen, die sich solcherart von Sterbenden in Anspruch nehmen lassen wollen. Mehr, als es Plätze gibt in den Ausbildungskursen etwa der Berliner Malteser. Und so hatten die Malteser auch einen Ehrenamtlichen "vom Bau" in ihrer Kartei. Einen, der sich zutraute, einen todkranken Alkoholiker zu begleiten.

Über die Krankheit sprachen die beiden nie. Eigentlich sprachen sie sowieso wenig. Nein, der Begleiter packte den Kranken einmal wöchentlich in den Rollstuhl, dann zogen sie über den Kiez, gingen in die Kneipe, tranken ein Bier, rauchten. "Da geht es nicht um Krankheitsverarbeitung und um Loslassen", sagt Kerstin Kurzke, die bei den Maltesern die Paare zusammenstellt, "sondern darum, dass ich dazugehöre. Verdammt nochmal, ich will spüren, ich bin noch! "

Es sind merkwürdige Übungen, die die ehrenamtlichen Sterbebegleiter in ihrer Ausbildung machen. Übungen, die so nahe gehen, dass manche den Kurs wieder abbrechen. Etwa die Übung "Abschiedsbrief": Stellen Sie sich vor, Sie liegen im Krankenhaus und warten auf eine Operation. Überraschend wird ein OP-Termin frei, in einer halben Stunde. Die Ärztin sagt aber auch, dass die Chancen für das Gelingen der OP nur 50 : 50 stehen. Telefonisch ist keiner Ihrer Angehörigen oder Freunde erreichbar. Sie könnten einen Brief schreiben, an eine einzige Person. Wem schreiben Sie? Und was?

"Ich habe gelernt: Wenn ich etwas tun möchte, dann jetzt!"

Die krebskranke Maike Sömmerda wüsste es gleich: Sie würde ihrem Mann schreiben. Dass sie zu dominant war. Sie war nun mal die Hauptversorgerin der Familie, mit ihrer Praxis. "Aber ich hätte ihm mehr zeigen können, wie sehr es mich entlastet hat, dass er sich immer um all die Kleinigkeiten gekümmert hat." Nie gingen die Papiertaschentücher aus, immer war eingekauft. "Das sind Nichtigkeiten, aber im Endeffekt doch sehr wichtig." Vielleicht, überlegt sie, wird sie ihm das jetzt sagen.

Die Koordinatorin der Malteser Sterbebegleiter in Berlin, Kerstin Kurzke, ist 32, gesund und lebhaft und hat trotzdem von dieser Briefübung profitiert. "Ich habe gelernt: Wenn ich etwas tun möchte, dann jetzt! " Deshalb hat sie gerade die Taufe des zweiten Kindes richtig groß gefeiert: als Party mit 100 Leuten. "Jetzt sind wir bettelarm", seufzt sie zufrieden.

Im Leben an den eigenen Tod zu denken, das muss man sich erst mal trauen. Aber wer sich mit der Grenze Tod vertraut macht, fühlt sich ermutigt, die Fülle des Lebens auszukosten. Nur was ist dann von all jenen Kranken zu halten, die als "austherapiert" gelten und die sich trotzdem ihre Rückkehr ins Büro und die Urlaubsreise nächstes Jahr ausmalen?

Gern diagnostizieren noch Gesunde hier kopfschüttelnd "totale Verdrängung". Na und? "Dann hat ein Patient für sich eben noch nicht das Konzept, dass Heilung unmöglich ist", sagt Krebsberaterin Dagmar Kürschner. Oder er findet sich drein und hofft daneben trotzdem auf ein Wunder. Es gibt keinen Plan für "richtiges" Sterben. Verleugnung, Zorn, Depression und Akzeptanz folgen nicht aufeinander, sondern wechseln einander ab, sogar innerhalb eines Gesprächs. Und leugnen kann helfen. Damit ein Mensch nicht zusammenbricht angesichts einer Wahrheit, die er für unerträglich hält.

Wie sein Sterben genau sein wird, darüber spricht er nicht.

Reinhard Fißler, der Sänger mit ALS, hat Jahre gebraucht, um überhaupt mal das Wort "sterben" auszusprechen. Erst als der Maler Jörg Immendorff starb, letzten Sommer, da erschrak er. Denn die beiden hatten die Diagnose ALS fast zeitgleich bekommen. Jetzt entwirft Fißler seinen Grabstein: Sein Name möge so gemeißelt sein, als wäre er schon fast verschwunden. "Es ist anmaßend zu erwarten, dass man sich an mich mit meinen Werten erinnern müsste." Ja, auch seine fünf Kinder dürfen ihn, wenn es nicht mehr so wichtig ist, vergessen.

Irgendwann wird auch die Atemmuskulatur vollends erlahmen. Aber es wird kein Ersticken sein, sagt Professor Thomas Meyer von der Charité in Berlin. "Die meisten schlafen ein, da sich immer mehr Kohlendioxid im Blut sammelt, das macht müde. Die anderen bekommen Medikamente, auch Morphium, das entspannt und nimmt die Atemnot."

Bis dahin ist noch Zeit, meint Reinhard Fißler. Gerade schreibt er ein Lied für seine Tochter. "Es hört eben nicht auf, in mir zu wühlen", sagt er und beginnt zu rezitieren. "Kleinen Moment", unterbricht er sich, "ich müsste mir noch die Nase ausdrücken lassen." Der Pfleger hält ihm ein Taschentuch an die Nase. "Drück länger", sagt Fißler, ein wenig ärgerlich.

Manchmal muss Fißler jetzt auch ruhen. Das missfällt ihm. Er hat noch so viel vor! Christen hoffen, dass sie dereinst Gott die Bruchstücke ihres Lebens hinhalten können, damit er vollende, was er in ihnen begonnen hat. Kann Reinhard Fißler damit was anfangen? "Ja, das klingt tröstlich", sagt er. Natürlich wisse er, dass er nicht mehr alles schaffen werde. "Aber ich will damit trotzdem nicht aufhören. Ich bin ja noch da! Ich bin noch da."

Im Haushalt des krebskranken Buchhändlers Severin Holzer ist vier Monate nach der Diagnose etwas Ruhe eingekehrt. Holzer hat mehrere Runden Chemotherapie hinter sich. Jetzt hat er Zeit, aber er weiß nicht, was er damit anfangen soll. Für Briefe, Erledigungen, schöne Unternehmungen fehlt ihm die Kraft. "Ich fühle mich wie auf dem Wartebänkchen, nur weiß ich nicht, worauf ich warte."

Wenn Besuch hereinschneit, freut er sich. Waren ihm früher politische Freunde am wichtigsten, so verbringt er jetzt die meiste Zeit mit Verwandten. Ausgerechnet er, der immer sagte, er habe keine Kinder gewollt, das sei immer nur passiert, weil die Frauen Kinder wollten. Wenn's ihm gut geht, lebt er in der reinen Gegenwart. "Ich lass mich gehen", sagt er.

Er überrascht sich und andere. Wenn er im Krankenhaus zur Chemo ist, gönnt er sich ein Einzelzimmer - so was hätte er als "solidarisch denkender Mensch" früher für unpassend gehalten. Aber das nächtliche Gehuste, Gefurze und Geächze ertrage er einfach nicht. Dafür kauft er, der Kommunist, einem gehunfähigen Mitpatienten auch mal eine "Bild" am Klinikkiosk.

Neulich, als ihm nach der Chemo sehr elend war, fragte er seine Frau: "War ich eigentlich hart?" Wie oft hat er früher gesagt:

"Ich will niemanden sehen!" Heute sagt er: "Dankeschön, dass du mich besuchen willst, aber es passt jetzt gerade nicht."

Es ist, als hätte Holzer die Blickrichtung geändert. Konnte er einst regelrecht verzweifeln über das Elend der Welt, sieht er jetzt zumindest sein eigenes Leben als rund. "Es ist mir gut ergangen. Ich habe immer das gemacht, was ich wollte." Mit feinem Lächeln fügt er hinzu: "Ich weiß zwar immer noch nicht, was der Sinn meines Hierseins ist, aber ich finde es ganz köstlich, dass ich am Leben bin. Jeden Tag."

"Ich freue mich jeden Tag, dass es wieder hell wird"

Schon beim Aufstehen freut sich Holzer: "Ach, es wird schon wieder etwas früher hell." Und während andere über das trübsinnige Wetter jammern, steht er am Fenster und sagt: "Ach, Regen kann so schön sein." Er hat ein neues Wort für sich entdeckt: Geschenk. Dass etwas schön ist, dass da ein Sinn ist, das kann man nicht herstellen. Es wird einem geschenkt.

Und Maike Sömmerda, die krebskranke Ärztin? Im Winter lag sie viel. "Das kenne ich gar nicht. Normalerweise, wenn man liegt, schläft man oder liest." Aber sie lag nur da und tat nichts. Und da kam ihr zum ersten Mal der Gedanke: "Das ist bestimmt mein letztes Weihnachten." Ihr Mann sagte: "Ach, das muss gar nicht sein, du kannst doch noch 20 Jahre leben." Aber sie wünschte sich ein rauschendes Silvester, mit Tanz und in schönem Hotel.

Es wurde dann zwar nichts mit dem Ball, weil sie mit ihren geschwollenen Beinen nur noch in bequeme Hosen und Sneakers passt. Aber sie fuhren nach Stralsund, schauten sich ein großes Feuerwerk im Hafen an und prosteten sich mit einer kleinen Flasche Sekt zu, wie all die anderen Paare an der Mole. Ihr Mann wünschte ihr, dass sie auch das nächste Silvester noch erlebt, ach was: noch viele Silvester.

Wo geht es hin mit ihr? Es ist das Unbekannte, das sie ängstigt.

Im neuen Jahr war sie wieder bei der Kernspintomografie: noch mehr Metastasen in der Leber. Wieder eine Chemotherapie. Ihr ist übel, sie liegt auf der Couch, der Mann ist noch auf der Arbeit, die Wintersonne verschwindet, die Terrasse wird dunkel, die Wanduhr tickt. "Ich habe das Gefühl, ich nähere mich dem Ende", sagt Maike Sömmerda.

Wo geht es hin mit ihr? Es ist das Unbekannte, das sie ängstigt.

"Ich hasse das, wenn ich so sitze und heule. Man soll sich doch an mich als einen fröhlichen Menschen erinnern." Und als sie daran denkt, wie man sich an sie erinnern wird, muss sie wieder weinen. "Ich wünsche mir, dass mal jemand sagt: 'Sie hat eine Lücke hinterlassen, es wäre schön, wenn sie noch da wäre.' Und nicht: 'Das Leben geht weiter.'"

Es geht ihr miserabel. Als Ärztin, sagt sie, weiß sie natürlich, was sie nehmen müsste , um ihr Leben zu beenden. Aber sie ist noch nicht fertig mit dem Leben. Zumindest das Kochbuch für die Tochter will sie noch zu Ende schreiben. Und im Mai zur großen Familienfeier fahren. Und in eine kleinere Wohnung ziehen, deren Miete ihr Mann dann auch alleine zahlen kann.

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