Jedenfalls nicht in erster Linie Selbsterfahrung - sondern die Aufmerksamkeit für den anderen
Fulbert Steffensky, Theologe am Vierwaldstättersee in Luzern fotografiert.Sophie Stieger
30.11.2010

Es war in einer Studie der Universität Bielefeld zu lesen: Viele Menschen, so heißt es dort, kehren der Religion den Rücken, weil sie ihnen zu wenig Spiritualität vermittle. Von diesen mit ihrer Religion Unzufriedenen hätte sich eine große Anzahl eher als spirituell denn als religiös bezeichnet.

Kein Wort treibt so viel Schabernack wie das Wort Spiritualität

Der Begriff "religiös" ist undeutlich und sagt noch nichts über Inhalte aus. Noch nebulöser scheint mir inzwischen der Begriff "spirituell". Ich kenne kaum ein Wort, das so viel Schabernack mit uns treibt wie das Wort Spiritualität. In den vergangenen Tagen habe ich mir einige Verbindungen mit dem Wort Spiritualität aufgeschrieben, auf die ich gestoßen bin: Spiritualität im Klassenzimmer, Spiritualität und Gesundheit, die Spiritualität des Geldes, Spiritualität und Bewusstseinserweiterung, Spiritualität und Wellness, Forschungsspiritualität; Spiritualität des Radios, der Wirtschaft, der Musik - und endlich: Spiritualität und Management! Für viele ist Spiritualität ein unverfänglicheres Wort, mit dem sie ihren Glauben und seine Gestalt bedenken. Es kann sein, dass Wörter abgestanden und verbraucht sind. Dann könnte das neue Wort ein Weg zur alten Sache sein, warum nicht? Es stören mich nur die Heilshoffnungen, die auf dieses neue Wort gesetzt werden, so als hätten wir damit etwas entdeckt, was wir noch nie hatten, und als könnte das Wort allein schon retten.

Die Erlebnis- und Selbsterfahrungszwänge, die oft mit dem Wort Spiritualität verbunden sind, halte ich für falsch. Der Wunsch nach Sensation und der Wunsch, sich selber zu fühlen, ist eine Grundabsicht, die man in neuen religiösen Szenen ständig trifft, und dies nicht nur außerhalb der Kirche. Woher kommt dies? Unsere Lebensräume in dieser Ersten, wohlhabenden Welt sind erfahrungs- und sinnenarm geworden, es sind temperierte Räume. Wir werden kaum einmal bis auf die Haut nass. Wir sind nicht bedrängt von Kälte und Hitze. Wir wissen kaum noch, was Hunger und Durst sind. Wir wissen nicht mehr, was eine Dunkelheit ist, bei der man die Hand vor den Augen nicht sieht. Man erfährt kaum eine vollkommene Stille. Vermutlich sind auch unsere erotischen Erfahrungen gedämpfter, als sie früher waren, gerade weil sie umstandslos zu haben sind. Wir erleben wohl weniger Glück und weniger Verzweiflung als in jenen Zeiten, in denen Menschen schutzloser waren gegen die Natur und gegen sich selber. Unsere Schulderfahrungen sind geringer geworden. Die Welt, die Religion, wir selber sind freundlicher uns selbst gegenüber geworden. Aber es gibt nichts ohne Preis. Vielleicht bezahlen wir den Fortschritt der Freiheit mit einem narkotischen Gefühl der Welt und dem Leben gegenüber. Dies dürfte einer der Gründe sein, warum Menschen dazu drängen, sich selber zu spüren, zu erleben und mit sich zu experimentieren.

Aber es gibt Dinge, die man nicht erwerben kann durch Suchen, durch Selbststeigerung und durch Selbstintensivierung. Martin Buber erzählt eine Geschichte aus seiner Kindheit: "Elfjährig, auf dem Gut meiner Großeltern den Sommer verbringend, pflegte ich mich, sooft ich es unbeobachtet tun konnte, in den Stall zu schleichen und meinem Liebling, einem breiten Apfelschimmel, den Nacken zu kraulen. Das war für mich eine große, zwar freundliche, aber doch auch tief erregende Begebenheit... Der Schimmel hob ... sehr gelinde den massigen Kopf ... dann schnob er leise, wie ein Verschworener seinem Mitverschworenen... ein Signal gibt, und ich war bestätigt. Einmal aber... fiel mir über dem Streicheln ein, was für einen Spaß es mir doch machte, und ich fühlte plötzlich meine Hand. Das Spiel ging weiter wie sonst, aber etwas hatte sich geändert, es war nicht mehr Das. Und als ich tags darauf meinem Freund den Nacken kraulte, hob er den Kopf nicht." ("Einsichten", 1953) Das Kind hatte nicht mehr die Kreatur gefühlt, es hat sich selber wahrgenommen; es wollte sich selber fühlen in seinem Spaß, und die mystische Einheit mit dem Lebendigen war gestört.

Alle spirituellen Kulturen warnen vor der Selbstaufsuche

Man kann sich nicht selbst beabsichtigen, ohne sich zu verfehlen. In allen spirituellen Kulturen hat man vor der Selbstaufsuche gewarnt. Die Erfahrung rechtfertigt nichts, das Ausbleiben der Erfahrung verdammt nichts. In der Gebetspraxis zum Beispiel hat man immer geraten, die alltägliche Trockenheit des Gebetes zu achten und es keineswegs zu lassen, wenn man nicht begeistert, ergriffen, erfüllt und weggerissen ist.

Ist die Kirche zu wenig spirituell? Es kommt darauf an, was man unter diesem Wort versteht. Spiritualität ist nicht hauptsächlich eine Frage religiöser Techniken oder des tiefen Selbsterlebens. Beten kann man, wenn man weiß, wofür man beten soll. Die Spiritualität der Kirche ist zuallererst ihre Aufmerksamkeit auf die Gesichter der Menschen; auf ihre Leiden und auf ihr Glück. Spiritualität ist die Erkenntnis der Augen Christi in den Augen des hungernden Kindes, der gequälten Frauen, der Menschen, die aus allen Sicherungen herausgefallen sind. Diese Spiritualität lehrt also Fragen stellen: Wer leidet? Warum leidet er? Wer macht leiden? Das Christentum ist nicht die religiöse Wattierung eines bürgerlichen Lebens, Gerechtigkeit, Erbarmen und Gotteserkenntnis sind untrennbar miteinander verbunden. "Wer in Gott eintaucht, taucht neben den Armen auf", sagt der französische Bischof Jacques Gaillot.

Die Kirche ist ein spiritueller Ort

Die Kirche ist ein spiritueller Ort, weil sie viele Instrumente religiöser Selbstgestaltung überliefert. Ich nenne ein solches Instrument: die "Losungen", jener Brauch, jeden Morgen einen biblischen Satz zu bedenken, den man sich nicht selber ausgesucht hat. Manchmal leuchtet ein solcher Satz unmittelbar ein, manchmal ist er wie eine schwer zu knackende Nuss. Immer aber ist es ein fremder Text, ein fremder, nur halb gebetener Gast, den man neben sich Platz nehmen lässt. Es ist nicht "mein" Satz, er wiederholt mich nicht. Ich folge ihm, ob ich dazu gelaunt bin oder nicht. Es ist ein Moment der Freiheit: Der fremde Gedanke führt mich von mir selber weg, er bringt mich in Widerspruch zu mir selber. Es gibt keine Spiritualität ohne einen solchen Weg, sich von sich selber zu befreien. Es ist also kein Mittel der Selbststeigerung, sondern ein Schlüssel für den Kerker des in sich selber eingesperrten Ichs. Es kann sein, dass mir der fremde Gast an einem Morgen nichts sagt, vielleicht viele Tage nichts sagt. Darum verweigere ich ihm nicht das Gastrecht. Ich wehre mich nicht gegen ihn, auch nicht gegen seine Langeweile, ich warte und habe Geduld mit ihm. Zur Geduld gehört die Regelmäßigkeit, mit der ich den Gast jeden Morgen zu mir lasse. Ich mache meine eigene Stimmung nicht zum Maßstab dieses Unternehmens. Stimmungen und Augenblicksbedürfnisse sind zwielichtig. Die strenge Treue zu dem Vorhaben, die Methode reinigt das Herz. Ohne dass ich es selber merke, bildet der Gast meine Seele, er baut an meinen Wünschen und an meinem Gewissen.

Ich habe ein bescheidenes Moment spiritueller Selbstgestaltung genannt. Die kirchliche Tradition ist voll von solchen Vorschlägen. Unsere Väter und Mütter haben gewusst, was Spiritualität ist, wenn sie am Morgen und am Abend gebetet haben, wenn sie die Bibel studiert und die Losungen gelesen haben, wenn sie sonntags in den Gottesdienst gingen, wenn sie ihre Kinder tauften und ihre Toten beerdigten. Ja, sie haben es gewusst. Uns aber ist vieles von ihrem Wissen verloren gegangen, und wir müssen das einfache Alphabet der Frömmigkeit neu lernen. Wenn wir es unter dem Namen Spiritualität tun, ist auch das gut.

In einer Zeitschrift finde ich den Erotik-Gottesdienst vom letzten Kirchentag, bei dem es Rosenblätter regnete, besonders gepriesen. Na ja, warum nicht! Religion ist auch Spiel, und warum soll es nicht gelegentlich Rosenblätter regnen. Aber von Rosenblättern lebt man auf Dauer nicht, wohl aber von dem Schwarzbrot, den unscheinbaren und unspektakulären Überlieferungen, die diese Kirche hat. Man muss sie nur kennen und üben.

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