30.11.2010

Georg ist Naturwissenschaftler. Schon in der Schule war klar, dass er einer werden würde. Er pusselte gern mit winzigen Dingen herum. Kein Wunder, dass er heute winzige Dinge baut, die Patienten das Leben leichter machen. Neulich sah ich ihn in Berlin wieder, beim Klassentreffen, 40 Jahre Abi. Er ist ganz der Alte und tüftelt nach wie vor. Aber er ist kein Fachidiot. Er denkt viel nach über Gott und die Welt. Wir sprachen über Glaubens- und Werteverlust, und er beugte sich zu mir herüber und sagte: Weißt du was? Ich gehe wieder in die Kirche. Irgendwie brauch ich das, diese Pracht, den Glanz, das Feierliche, die Musik. Georg ist katholisch. Ihm vermittle das ein Gefühl von Erhabenheit und Geborgenheit. Ich verstand ihn. Im Begriff, nach über 30 Jahren wieder in meine ­ evangelische ­ Kirche zurückzukehren, empfinde ich auch so eine Sehnsucht nach Geborgenheit, einer Heimat irgendwo zwischen Herz und Hirn.

Vermutlich ist auch mein "Heim-Weh" mit dem Bewusstsein gewachsen, in einer von den "exakten" Wissenschaften vereinnahmten Zeit zu leben, in der das Individuum seelisch und geistig schon lange nicht mehr Schritt halten kann mit dem sich immer rasanter beschleunigenden Tempo technologischer Innovation. Schon als vor vierzig Jahren die ersten Westler zu den Bhagwans nach Indien pilgerten, ging es im Prinzip um das Gleiche: um die Suche nach einer Heimat nicht im Kopf, sondern in der Seele.

Eine von Gigabytes, Quoten, Profitgier und Global-Player-Ökonomie versklavte Welt

Vier Dekaden nach Hare Krishna herrschen mehr denn je Nostalgie und die Sehnsucht nach Ausgewogenheit zwischen einer von Gigabytes, Quoten, Profitgier und Global-Player-Ökonomie versklavten Welt und einer anderen, physisch nicht sichtbaren Welt, die nicht durch rationales Wissen verstanden werden kann, sondern, ganz unwissenschaftlich und ganz immateriell, einzig durch die Kraft zu glauben. Doch in welchem Maße das Heute tatsächlich bestimmt wird von der hemmungslosen Jagd nach dem Mammon, wird einmal mehr deutlich im Hickhack um die Ladenschlusszeiten. Hinter der Glitzerkulisse der Einkaufstempel lastet das schwerste Leiden unserer Gesellschaft: der Verlust an Werten, und das Ladenschlussthema ist nur ein Symptom unter unzähligen im Krankheitsbild einer Hochkultur, in der die Warner vor einer maß(stab)losen Welt abfällig als "Gutmenschen", als Frevler an der Freiheit des Individuums oder als Weltuntergangsunken denunziert werden. Dabei geht es gar nicht um den Untergang der Welt, sondern um deren Verarmung zu einer Konsumgesellschaft.

"Ich will auch noch den Sonntag", sagte Peter Dussmann, der Chef des Berliner "Kultur-Kaufhauses", im November letzten Jahres, nachdem er sein Haus einen Samstag testweise 24 Stunden offengehalten hatte. Dem entgegen steht das Wort des Münchener Kardinals Friedrich Wetter: "Die Bequemlichkeit, einzukaufen, ist ein nicht so hohes Kulturgut wie der Sonntag." Das trifft das Problem zwar im Kern, mutet aber kraftlos an gegenüber dem, was Bernd Matthies am 11. November im Berliner "Tagesspiegel" in seiner Glosse zu melden hatte: ",Am siebten Tage sollst du einkaufen, was der Dispo hergibt', heißt es in der Bibel (Buch Westerwelle 18,2­4), denn auch Gott hat sich ja bekanntlich nach dem anstrengenden Schöpfungswerk am siebten Tage zu Saks Fifth Avenue begeben, um dort eine neue Designerkutte zu kaufen und sich den Bart stutzen zu lassen."

"Nachts gehen die Leute nun mal nicht shoppen"

Direkt drinnen in den Labyrinthen der Verführung entdeckt man hinter der glitzernden Fassade schnell die Tristesse einer Wirklichkeit, in der die Personalkosten steigen, nicht aber der Umsatz. "Ist der Reiz des Neuen verflogen, begreifen die Menschen, dass das Mehr an Öffnungszeit ja kein Mehr im Portemonnaie bedeutet", hat eine Filialleiterin in einem Hamburger Einkaufszentrum festgestellt. Und "nachts gehen die Leute nun mal nicht shoppen, sondern allenfalls bummeln, und ansonsten sind sie froh, wenn sie abends zu Hause die Beine hochlegen können. Es war schon vor vielen Jahren mit dem langen Donnerstag so. Der wurde dann ja auch bald wieder still und leise abgeschafft."

Ich erinnerte mich an das Gespräch mit einem New Yorker Taxifahrer vor über zehn Jahren, als die Öffnungszeitendebatte in Old Germany gerade ihr erstes Fortissimo erreicht hatte. "Gibt es eigentlich auch hier Probleme mit dem Ladenschluss?", hatte ich ihn irgendwo in Queens gefragt, worauf er nur verständnislos zu mir herübersah und dann meinte: "Das hier, Sir, ist ein freies Land. Und darum macht hier jeder seinen Laden auf und zu, wann es ihm passt." Die beiden Sätze prägten meine Einstellung in den folgenden Jahren: Soll doch jeder machen, was er will. Reglementiert ist, zumal in Deutschland, sowieso schon mehr als genug.

Heute sehe ich das anders. Ich bin überzeugt, dass die große Freiheit nur dazu da ist, in ihr verloren zu gehen, solange man sie in ausschließlich materialistischen Dimensionen misst. Schon 1998 hatte das Unternehmen Motorola in Flensburg einen Sonntag zum vollen Produktionstag erkoren und mit seinem rasch nachgeschobenen Bekenntnis zum "Standort Deutschland" den zuständigen evangelischen Bischof des Sprengels, Hans Christian Knuth, zu den Worten veranlasst: "Als ob identitätsstiftend für uns nur unser Bruttosozialprodukt wäre oder etwa Export- und Importbilanzen und nicht die Grundrechte unserer Verfassung oder die Verfassung als solche, nicht die Geschichte und Kultur, nicht unsere Rolle in Europa oder gar unsere Zugehörigkeit zum christlichen Abendland."

Tanz ums Goldene Kalb

Die neuzeitliche Variante des Tanzes ums Goldene Kalb zeigt sich in einer Choreografie, die tatsächlich nur noch einen Grundsatz kennt: die sinnentleerte, zerstörerische Vermehrung des Geldes. Dem Auftrag Gottes an den Menschen, sich die Erde untertan zu machen, wird Folge geleistet. Und zwar mit der gleichen Perfektion, mit der die säkulare Welt alles ignoriert, was an ethischen und moralischen Grundsätzen einst in jene Regelsysteme eingeflossen war, die sie erst ermöglichten. Dazu gehört das 3. Gebot ("Du sollst den Feiertag heiligen") ebenso wie die Vertreibung der Händler aus dem Tempel im Johannesevangelium.

Und dann sind da ja noch die Politiker. Deren einer heißt Thomas de Maizière, und der macht sich selber froh. "Immer noch gehen mehr Menschen in die Kirchen als in die Fußballstadien", spricht der Minister und merkt nicht, dass er Äpfel mit Birnen vergleicht. Was er meint, ist: Alles halb so wild. Und die christlichen Fundamente sind doch auch "immer noch" in Ordnung.

"Die Ursache ist HABGIER."

Das sagt er fünfzig Jahre, nachdem der amerikanische Dichter Ezra Pound in seinem Spätwerk den Satz geschrieben hatte: "Der Tempel ist heilig, weil er nicht zu Verkauf steht." Und wenige Jahre vor seinem Tod 1972 notierte er in Italien noch die wenigen Wörter, mit denen er seinen fast fünfzigjährigen Feldzug gegen die Geißel der Plusmacherei als gescheitert eingestand: "betr. USURA (lateinisch für Wucher, d. Red.). Ich habe das nicht ausreichend fokussiert und Ursache und Wirkung verwechselt. Die Ursache ist HABGIER."

Die Sprache der Werbung bringt heute so hirnrissige Komposita hervor wie "Wohlfühl-Kaufhaus" oder "Erlebnis-Einkauf", Euphemismen für eine Erlebensunfähigkeit, die zum Großteil zurückzuführen ist auf die übersättigende Macht der Massenmedien. Es sind Euphemismen, die das Triviale zum Phänomen hochlügen, Stichwörter für eine Welt, die, statt sich Inhalte zu verschaffen, im Kotau vor der Omnipotenz der Bildschirme von Fernsehen, Foto-handy, Nintendo und PC erstarrt ist.

Aber Gott sei Dank: Es gibt noch Georgs Welt, die Welt meines alten Freundes, des Naturwissenschaftlers, der so gern nachdenkt über Gott und die Welt. Und über die Geborgenheit der Seele.

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