Unerfreulich geht es zu auf deutschen Straßen: Die einen fühlen sich ausgebremst, die anderen bedrängt. Ein Rollenspiel interview Christine Holch Fotos thies ibold
Tim Wegner
07.10.2010

chrismon: Angenommen, ich habe 18 Punkte, mein Führerschein ist also weg. Jetzt muss ich in die Medizinisch-Psychologische Untersuchung (MPU) und sitze dort Ihnen gegenüber. Ich verstehe überhaupt nicht, was das soll. Ich bin doch ein sehr guter Fahrer!

Thomas Wagenpfeil: 90 Prozent der Autofahrer halten sich für exzellente Fahrer. Sie legen sich dabei Kriterien zurecht wie: Ich hab noch nie einen schweren Unfall gehabt, ich kann schnell reagieren, ich hab alles im Griff. Dass aber der gute Fahrer eher der ist, der keine unnötigen Risiken eingeht, der sich sogar ­ ich sag jetzt ganz was Altmodisches ­ höflich verhält, das blenden viele aus.

Meine Punkte waren einfach Pech -­ der Polizist hatte es auf mich abgesehen.

Wagenpfeil: Um 18 Punkte zusammenzukriegen, müssen Sie schon über einen längeren Zeitraum sehr hartnäckig gegen die Verkehrsvorschriften verstoßen haben. Denn Sie werden nur bei einem von sehr vielen, vielleicht bei einem von Tausenden von Geschwindigkeitsverstößen erwischt. Da müssen Sie beim Punktesammeln richtig am Ball bleiben, sonst kommen Sie nicht auf 18 Punkte.

Punkte sind was für die anderen. Ich werde auch mit kitzligen Situationen fertig. Die A 9 zum Beispiel von München nach Salzburg, die ist bergig, kurvig, voller Staus. Aber wenn hinter einer Kuppe plötzlich die Schlange steht, weiche ich eben auf die Standspur aus. Ich hab das im Griff, auch mit 200.

Wagenpfeil: Es gibt Situationen, die hat niemand im Griff. Wahrscheinlich hatten Sie einfach Glück. Aber Sie interpretieren das natürlich anders: Wenn's gut geht, lag das an meinem Können, wenn's schief ging, war's Pech. Sie legen sich Ihre Erfahrungen so zurecht, dass sie in Ihr Weltbild passen. Das ist zunächst auch zutiefst menschlich. Aber 18 Punkte sind ein Misserfolg, dem man einfach mal schonungslos ins Auge sehen muss, um einen Schritt weiterzukommen.

Okay, dann geh ich halt in so einen 14-stündigen Kurs, damit ich meinen Lappen wiederkriege. Mach ich halt Psychospielchen...

Wagenpfeil: Wir machen keine Psychospielchen. Erst einmal unterstütze ich Sie dabei, Ihr Verhalten so zu sehen, wie es wirklich ist. Manche glauben ja, dass es üblich ist, mehr als 14 Punkte zu haben ­ es sind aber weniger als ein Prozent aller Fahrer, die so viele Punkte haben. Schon dadurch, dass Sie sich damit auseinandersetzen, werden Sie sich anders einordnen: Moment mal, ich gehöre ja gar nicht zur Mehrheit, sondern zu einer Minderheit.

Aber ich verstehe ja gar nicht, warum ich all die Punkte gekriegt hab. Ich halte mich doch immer an die Regeln!

Wagenpfeil: Auch das ist zunächst menschlich, dass man das so sehen will. Aber irgendwann müssten Sie sich einfach mal eingestehen, dass Sie, wo 50 steht, oft 70 fahren. Sie bremsen nicht am Ortsschild ab, sondern kommen von der Landstraße mit 100 und lassen den Wagen ab dem Ortsschild "ausrollen". Sich das einzugestehen, da brauchen Sie schon ein bisschen Zeit. Und Mut zur Selbstkritik ­ denn Sie müssen Ihr Selbstbild ändern. Das ist ein Riesenschritt.

Aber auf der Autobahn darf ich so schnell fahren, wie ich will. Und da verstopfen lauter Idioten die linke Spur mit 120, obwohl ich da mit 200 unterwegs bin. Nur um mich zu ärgern!

Wagenpfeil: Viele Fahrer haben mir schon gesagt: "Der ist doch mit Absicht so langsam gefahren, der wollte mich ärgern." Da kriegt man natürlich unkontrollierbare Gefühle, Ärger, Wut. Und dann bedrängt man den anderen, blendet auf. Genau diesen Mechanismus schauen wir uns im Kurs gemeinsam an. Ich mache mir klar: Moment mal, das weiß ich doch gar nicht, ob der das mit Absicht macht; und wenn er's nicht mit Absicht macht, brauch ich mich auch nicht zu ärgern.

Und woher wissen Sie, dass der nicht mit Absicht schleicht?

Wagenpfeil: Warum sollte er das tun? Entschuldigen Sie, wer fährt auf der linken Spur 120, nur um andere zu ärgern? Ein paar solcher Menschen mag es geben, aber das ist nicht das Thema. Jemand, der Probleme hat mit dem Drängeln, redet sich eben ein: Ich hab ständig Leute vor mir, die mich absichtlich ärgern wollen ­ ich bin das Opfer.

Genau, die wollen mich belehren! Alles Lehrer!

Wagenpfeil: Das nennen wir Psychologen "irrational belief", eine irrationale Überzeugung.

Aber Sie in Ihrem Kurs wollen mich doch auch belehren!

Wagenpfeil: Nein, in keinster Weise. Ich kann ja auch gar niemanden belehren, denn jeder kennt die Verkehrsregeln, und vor allem: Niemand ändert sein Verhalten, wenn ich ihn belehre. Nein, wir diskutieren und erarbeiten uns etwas gemeinsam. Es geht darum, das eigene Verhalten zu erkennen, dann das Problematische daran: Inwiefern schade ich mir mit diesem Verhalten selbst? Und wie ist dieses Verhalten überhaupt entstanden? Da hat man sich schon oft geschworen, man kriegt keine Punkte mehr, und dann ist doch wieder was gekommen. Die Leute leiden ja selbst darunter, dass sie Punkte, Geldstrafen, Führerscheinentzug kriegen. Und genau aus diesem Teufelskreis helfen wir ihnen heraus.

Ich hab nun mal beruflich viel um die Ohren, bin oft in Eile...

Wagenpfeil: Wodurch entsteht denn die Eile? Lassen Sie uns das mal anschauen. Es gibt Leute, die genauso viel an der Backe haben und trotzdem relativ entspannt durchs Leben gehen. Also: Wie schaut's mit der Terminplanung aus, halse ich mir zu viel auf? Und dann schaue ich, wie reagiere ich auf Stress und Hektik? Wovor habe ich Angst? Wie kann ich die Angst reduzieren? Wenn ich die Angst reduziere, dann reduziere ich auch diesen wahnsinnigen Druck, der dadurch entsteht. Und die Wut.

Zeitplanung, hab ich alles schon versucht. Das haut nicht hin. Selbst wenn ich nur mit 130 Kilometern die Stunde rechne, das klappt nicht.

Wagenpfeil: 130 pro Stunde im Schnitt von Haustür zu Haustür kriegen Sie bei der heutigen Verkehrsdichte nicht hin. Selbst auf einer reinen Autobahnstrecke haben Sie nicht mehr als 120 im Schnitt. Bei dieser Planung ist klar, dass Sie am Rotieren sind. Und dann hocken Sie sich auf den anderen hinten drauf. Dabei ist das auch noch irrational: Dadurch, dass ich dem anderen hinten draufhocke, komme ich auch nicht schneller vorwärts. Irrationale Verhaltensweisen sind stark von Emotionen gesteuert, dann schaltet sich das Hirn aus ­ deswegen ist es ja auch so gefährlich.

Wieso gefährlich? Dann hätte es doch schon viel öfter krachen müssen. Hat es aber nicht.

Wagenpfeil: Richtig. Weil die anderen meine Fehler ausgleichen. Nur weil sich die allermeisten an die Regeln halten, haben Sie sich blind darauf verlassen, dass Fußgänger am Straßenrand bleiben oder dass der entgegenkommende Wagen ganz bestimmt auf seiner Seite bleibt. Und Sie hatten Glück. Wenn ich fünf Meter Abstand habe bei einer Geschwindigkeit von 100 Stundenkilometern, dann darf der vor mir nicht mehr zucken. Es läuft eben immer wieder aufs Gleiche hinaus: Wie sortiere ich die Tatsache ein, dass noch kein Unfall passiert ist? Ich sag Ihnen mal was: Ein Unfall ist ein relativ seltenes Ereignis, aber wenn er passiert, dann ist es zu spät. Dass Ihnen noch kein Unfall passiert ist, ist kein Argument. Er könnte morgen passieren, wenn Sie sich weiter so verhalten.

Nun bin ich gar kein Drängler, sondern in Wirklichkeit eine Gedrängelte. Dabei kann ich meist gar nicht so schnell wieder nach rechts, wie der Hintere das möchte. Da würde ich schon gern mal die Bremslichter aufleuchten lassen.

Wagenpfeil: Bloß nicht. Das ist Nötigung. Und gefährlich bei so dichtem Auffahren. Auch wenn Sie die Bremse nur antippen, nehmen Sie den Fuß vom Gas, werden also langsamer ­ Sie riskieren, dass der Hintermann tatsächlich drauffährt. Außerdem geht das dann hin und her und eskaliert leicht, da sind schon die schrecklichsten Dinge passiert. Was haben Sie also von Ihren Bremslichtern? Das ist, wie wenn Sie einem, der Sie mit dem Revolver bedroht, auch noch die Zunge rausstrecken. Ich schau dann einfach nicht mehr in den Rückspiegel; ich weiß, er ist hinter mir, aber er wird mich jetzt auch nicht platt fahren. Ob der mir einen Vogel zeigt oder aufblendet, das schau ich mir gar nicht an. Ich konzentriere mich auf das, was vor mir passiert, so sollte man es ja eh halten.

Aber er soll was kapieren! Ich könnte wenigstens ein bisschen langsamer werden...

Wagenpfeil: Dann sind Sie nicht besser als der Drängler: Sie wollen sich durchsetzen mit Ihren Interessen. Aber der Verkehr funktioniert nur auf der Basis gegenseitiger Rücksichtnahme. Ich muss damit leben, dass ich mich nicht so verhalten kann, wie ich gerne würde. Dass meinen eigenen Freiheiten Grenzen gesetzt sind. Der Verkehr ist ein soziales System.

Ich hab aber schon das Recht, mit meinem Kleinwagen einen Lkw zu überholen? Denn wenn es links endlich mal leer ist, kommt garantiert eine schwarze Karosse aus dem Nichts angeschossen und fühlt sich behindert ­ und ich soll ja andere nicht behindern.

Wagenpfeil: Selbstverständlich dürfen Sie auch mit 100 einen Lkw überholen, der mit 80 fährt, ganz klar. Als langsames Auto brauchen Sie natürlich besonders großen Abstand zum nachfolgenden Verkehr, da gilt auch für Sie: Rücksicht nehmen. Aber: Einer, der mit 200 auf der linken Spur daherkommt, der wird mit jedem, der ausschert, ein Problem haben. Der auf der linken Spur kann sich nicht darauf berufen, dass er ausgebremst wurde, denn mit 200 wirst du immer ausgebremst. Er kann nicht sagen: Ich komm mit 200 und alles muss aus meiner Bahn. Es gibt in der ganzen Straßenverkehrsordnung kein Recht für den Schnelleren. Also: Bleiben Sie cool und beenden Sie Ihren Überholvorgang, der Schnellere hat nicht mehr Rechte.

Wie soll ich denn da cool bleiben! Und es gibt immer noch mehr Drängler!

Wagenpfeil: Nein, es stimmt nicht, dass die ganze Republik fährt wie die Wahnsinnigen, und dass der Ehrliche der Dumme ist. Sondern das Gros der Leute verhält sich im Verkehr weitestgehend korrekt und angepasst. Der Anteil von Leuten, die überhaupt Punkte haben, liegt relativ konstant bei etwa 12 bis 15 Prozent. Vielleicht kommt Ihr Eindruck daher, dass der Verkehr immer dichter wird.

Sind wir vom Verkehr überfordert?

Wagenpfeil: Er stellt hohe Anforderungen ­ aber nicht in erster Linie in technischer Hinsicht, sondern in puncto Verantwortungsbewusstsein und Frustrationstoleranz. Das heißt: Der gute Autofahrer ist nicht der, der sein Auto technisch perfekt im Griff hat, sondern der, der akzeptiert, dass er nicht immer so kann, wie er will. Und der sich dann auch gegenüber den Fehlern der anderen gelassen verhält. Wir haben im Verkehr nun mal eine Mischung aus Profis und Anfängern, aus Leuten, denen Autofahren Spaß macht, und welchen, für die das eine Qual ist, die vor einem Spurwechsel Angst haben. Und die müssen eben alle miteinander klarkommen. Von diesen Anforderungen sind tatsächlich einige überfordert. Aber: Der Mensch kann sich immer weiter entwickeln, auch im Verkehr.

 

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