15 Jahre nach der friedlichen Revolution
30.11.2010

Es war 1981. Die gerade in Ost und West entstandene Protestbewegung der evangelischen Jugendpfarrämter gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen, die "Friedensdekade", lud zur Beteiligung ein. Ich sprach den Stadtjugendpfarrer an. Wir wagten eine 22-Uhr-Andacht zur Friedensdekade in der Nikolaikirche. Dass jemand kommen würde, war relativ unwahrscheinlich. Dennoch rechneten wir mit 15, 20 Leuten und planten das Ganze im überschaubaren Altarraum, dem schönsten und wichtigsten Raum der Kirche. Mit Gemälden, die Situationen aus Leben und Passion von JESUS darstellen.

Alles, was quälte und wütend machte, kam aus den Jugendlichen heraus.

Wie überrascht waren wir, als etwa 120, 130 Jugendliche kamen, ungewöhnlichen Aussehens, eigenwillig gekleidet, etliche was Grünes ins Haar geschmiert. Der Staat nannte sie "Elemente", sie machten ihm Angst. Die "Elemente" ließen sich in aller Seelenruhe auf dem kostbaren Marmorfußboden nieder, der Platz reichte kaum. Ein großes Holzkreuz hatte ich zusammennageln lassen. Das lag auf dem Boden, damit jeder sehen konnte, was es heißt, aufs Kreuz gelegt oder gar angenagelt zu werden. Daneben stellte ich einen Wäschekorb mit Haushaltskerzen und sagte: "Jeder, der etwas sagen möchte, kann das tun, nehme eine Kerze, zünde sie an und stecke sie auf das Kreuz. Wer Christ ist, kann das mit einem Gebet verbinden. Wer kein Christ ist, sagt's einfach an." Und sie taten es tatsächlich. Alles, was quälte und wütend machte, kam aus den Jugendlichen heraus.

Eine ungeheuer befreiende Wirkung ging davon aus. Es störte nicht, dass etliche noch nie zuvor in einer Kirche gewesen waren. Es spielte keine Rolle mehr, was der vormundschaftliche Staat ihnen über die Kirche eingetrichtert hatte. Sie fühlten sich befreit und ernst genommen. So, dass keiner nach Hause ging, als es zu Ende war. Was macht man da? Tee wurde gekocht, Fettbemmen geschmiert. Das war ein Anblick! Dort, wo im Mittelalter nur die Chorherren und die hohe Geistlichkeit sitzen durften, saßen nun diese schrägen Vögel: in der einen Hand die Teetasse, in der anderen eine Fettbemme ­ und fühlten sich unglaublich wohl.

Da ist es endlich auch bei mir passiert: Das ist es! Wenn wir die Kirche öffnen für alle, die draußen zum Verstummen gebracht, die diffamiert oder gar inhaftiert werden, dann kann niemand mehr auf den Gedanken kommen, die Kirche sei eine Art religiöses Museum oder ein Tempel für Kunstästheten. Sondern dann ist JESUS real präsent in der Kirche, weil wir zu tun versuchen, was JESUS tat und was ER will, dass wir's heute tun. Das ist die Geburtsstunde der Offenen Stadtkirche, offen auch für die Rand- und Protestgruppen der Gesellschaft, offen für alle. Die Kirchentüren auf! Eine offene und einladende Kirche mit klarem JESUS-Profil ist die Kirche von heute und morgen, deren Schwelle niedrig ist sowohl für Rollstuhlfahrer als auch für Atheisten, für gesellschaftskritische Querdenker, für Zweifler und andere gute Christen.

"Tua res agitur"

Und keine Angst vor den Massen! Andacht 1988 für Ausreisewillige in der Nikolaikirche zum Thema "Leben und Bleiben in der DDR". Mit 50 vereinbart, waren rund 600 gekommen. "Tua res agitur", sagte schon der Reformator Martin Luther, "deine Sache wird betrieben", da sind die Leute da. Nach einer längeren Einleitung ­ weggehen oder hierbleiben: genau überlegen und ernsthaft prüfen! ­ probierte ich eine neue Art der "Bibelauslegung". Ein JESUS-Wort zu finden, das unmittelbar auch die in der Überzahl anwesenden Nichtchristen ansprach. So rief ich einfach in die Kirche: "JESUS fragt: 'Wollt ihr auch weggehen?'" (Johannesevangelium 6,67) Da wurde es totenstill in der Kirche. Es arbeitete in den Köpfen der Menschen: "Hier bist du geboren und groß geworden, hier sind deine Eltern und Freunde. Und wenn du wirklich in den Westen kommen solltest, darfst du erst mit 65 Jahren wieder zurück. Was machen die eigentlich mit dir?"

So resigniert darf keiner aus der Kirche gehen! Ich überlegte und sagte: "Da steht noch ein Wort für euch in den Psalmen. Psalm 65,9 heißt es: 'GOTT, DU machst fröhlich, was da lebet im Osten wie im Westen.'" "Was", fragten die Leute, "steht das wirklich in der Bibel?" "Ja", sagte ich, "schon lange steht das da für euch!" Die Leute mussten lachen und fingen an, sich mit den Nachbarn zu unterhalten. Die Stimmung kippte total ins Positive um. Ich hatte Mühe, noch den Segen unterzubringen. Danach die Frage: "Herr Pfarrer, wir gehören zwar nicht der Kirche an, aber können auch wir Ihre Friedensgebete besuchen?" "Draußen steht es schon: Nikolaikirche ­ offen für alle, Sie sind uns herzlich willkommen." Von da an gab es die Friedensgebete mit Hunderten von Menschen und enorme Schwierigkeiten mit dem Staat: Wir waren zum bestbeobachteten Ort der DDR geworden.

Einen explodierten Seelsorgefall nannte ich das bei mir. Und konnte die Erfahrung damit nach der deutschen Vereinigung neu in Anwendung bringen bei dem jetzigen Problem Nummer 1, der Arbeitslosigkeit. Den Kreis "Hoffnung für Ausreisewillige" brauchten wir nicht mehr, eine Gesprächsgruppe "Hoffnung für Arbeitslose" umso mehr. Zu viert waren wir beim Startabend im September 1990. Doch auch dieses Senfkorn Glauben erfuhr ungeahnten Segen. Wir konnten uns nicht erst in deutscher Gründlichkeit zehn Jahre lang vorbereiten. 1991 nahm die "Kirchliche Erwerbsloseninitiative Leipzig" ihre Arbeit auf. 15 solcher Einrichtungen gibt es inzwischen in Sachsen.

1996 sollte eine bekannte Brauerei in Leipzig platt gemacht werden, obwohl sie schwarze Zahlen schrieb. Der Konzern, der sie übernommen hatte, wollte den unliebsamen Konkurrenten ausschalten. Es kam überraschend anders. Der Betriebsrat wandte sich an mich mit der Bitte, etwas gegen die drohende Schließung zu unternehmen. Im Rahmen eines Friedensgebetes ­ die Kirche war dieses Mal überwiegend mit Brauereiarbeitern gefüllt, was durchaus ungewöhnlich war ­ sprachen Betriebsangehörige und der Regierungspräsident über die Lage. Ich eröffnete mit einem gewagten Satz: "Die Brauerei soll geschlossen werden ­ wir nehmen diese Ungerechtigkeit nicht hin! Die Brauerei arbeitet weiter!" Weil das so ziemlich das Unwahrscheinlichste war, was passieren würde, zitierten es alle Zeitungen.

"Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist"

Nach einem Vierteljahr stand definitiv fest: Die Brauerei bleibt bestehen. "Die Kirche kümmert sich, die sind auch der Marktwirtschaft nicht auf den Leim gegangen" ­ so die Meinung der Straße. "Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist", sagte Dietrich Bonhoeffer. Das ist Kirche, wie sie JESUS in Gang gesetzt hat. Kirche, die die Menschen verstehen.

So wurde ich als Pfarrer der Nikolaikirche immer wieder in die Öffentlichkeit geholt. Zu einer Rede am 1. Mai. Zu Großveranstaltungen gegen Neonazi-Aufmärsche, wobei diese Veranstaltungen immer in der Nikolaikirche mit einem An-Denken des Tages, mit einer Andacht also, begannen. Und immer mussten die Veranstalter damit rechnen, dass meine Rede unweigerlich auf eine Art Predigt, auf JESUS hinauslief. So 2003 bei einer Gewerkschaftskundgebung mit 10000 Leuten. Kaum war ich fertig, sagte einer in unverfälschtem Sächsisch zu mir: "Herr Pfarrer, wenn ich Sie so here, kennt'ch in meim atheistischen Globn glei irre wern."

Von JESUS lernen verständlich zu sprechen, nicht die Kult- und Kirchensprache von Insidern zu benutzen, ohne religiöse Voraussetzungen zu sprechen: Das ist die Aufgabe der Kirche. Und keinen Respekt vor Ämtern und Titeln! In der Adventszeit 2002 wurde ich vom amerikanischen Generalkonsul in Leipzig eingeladen: "Schmücken Sie mit uns den Weihnachtsbaum." Ich bedankte mich und antwortete: "Ihr Präsident bereitet gerade mit aller Energie einen Krieg vor. Im Weihnachtsevangelium aber heißt es: 'Ehre sei GOTT in der Höhe und Friede auf Erden.' Sie werden verstehen, dass ich Ihre Einladung nicht annehmen kann." Stattdessen lud ich vom 1. Weihnachtsfeiertag an täglich zu einer Mahnwache vor der Nikolaikirche gegen den Krieg ein. Mit 18 Personen begannen wir. Als wir knapp hundert waren, kam die Bitte, montags nach dem Friedensgebet, im Januar 2003, eine Antikriegsdemonstration zu veranstalten. Die Teilnehmerzahlen verdoppelten sich von Woche zu Woche, bis wir etwa 45 000 Menschen waren.

Sich verweigern und sich einmischen wie JESUS. Furchtlos hat ER den Autoritäten ins Gesicht geredet, dass ihnen Hören und Sehen verging. Und manchmal hat ER laut geschwiegen. "Wer von euch", sagt JESUS, "der hundert Schafe hat und eins von ihnen verliert, lässt nicht die neunundneunzig in der Wüste und geht dem verlorenen nach, bis er's findet?" (Lukas 15,4) Ist es nicht inzwischen irgendwie völlig anders geworden: Sind nicht neunundneunzig infolge der jahrhundertelangen babylonischen Gefangenschaft der Kirche durch Thron und Altar verloren gegangen, und wir hätscheln und streicheln durch unsere Betreuungsstrukturen heute das eine Schäfchen, das "noch" zur Kirche gehört? Haben wir es womöglich nicht mitbekommen, dass die Thron-und-Altar-Zeit und die Ära danach vorbei sind und das jesuanische Zeitalter anbricht, in dem Straße und Altar zusammengehören?

"Siehe, Ich mache alles neu"

Kirche darf sich in keiner Weise als Handlanger missbrauchen lassen, um an der Macht teilzuhaben. Kirche braucht sich erst recht nicht mit auf den Innerlichkeitstrip zu begeben, um am Opiummarkt der Möglichkeiten mitbieten zu können. JESUS hat sich sowohl den konkreten Nöten dieser Welt entgegengestellt ­ Kranke geheilt, Schuldige entfesselt, an den Rand Gedrückte oder Geratene wieder mit GOTT und den Menschen zusammengebracht ­ als auch eine unermessliche Hoffnung in die Welt gebracht: "Siehe, ICH mache alles neu" (Offenbarung 21,5).

Wie Kirche heute zu sein hat? "Salz der Erde" (Matthäus 5,13) soll sie sein, soll das Denken vor der Geschmacklosigkeit, die Gesellschaft vor dem Verfaulen bewahren und die vereisten menschlichen Beziehungen auftauen. "Licht der Welt" (Matthäus 5,14) soll sie sein, damit den Menschen das Licht des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung aufgeht, damit die Menschen "helle" werden. Und sie ist zugleich für die Zukunft verantwortlich, hat die unermessliche Hoffnung JESU auf eine neue Wirklichkeit, das REICH GOTTES, weiterzugeben, damit uns Menschen die Hoffnung nicht ausgeht.

 

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