Der Vorgänger wurde zum erfolgreichsten Computerspiel aller Zeiten ­ jetzt bevölkern die Sims 2 die Festplatten. Und Millionen Menschen lassen sich von der Alltagssimulation vor schwierige Fragen stellen: Was ist gut? Was ist böse? Und: Soll man den Trick gegen das Altern benutzen?
07.10.2010

Reinmann, Axel

Sollte Gott spielen, nicht nur philosophisch, wie manche behaupten, sondern so richtig am Computer, mit Tastatur und Maus, mit Bildschirm und 32-MB-Grafikkarte, dann hieße eine Spielfigur Wolf. In der gegenwärtigen Spielphase wäre Wolf 64 Jahre alt, verheiratet, Rentner und Besitzer von drei Katzen. Und Wolf würde in einem komfortablen Einfamilienhaus mit Garten in der Nähe von Lübeck wohnen.

Eine andere Spielfigur hieße Lissy. Lissy wäre 37 Jahre alt und Hausfrau. Und sie würde zusammen mit ihrem Mann in einer ehemaligen Eisenbahner-Wohnung in Celle leben, ein Rheuma-Selbsthilfe-Forum betreiben und sich gern mit Freunden treffen.

Eine dritte Spielfigur, das wäre Will. Ein 44-jähriger Computerspiel-Designer. Mit seiner Frau und seiner Tochter würde Will in einer Villa leben in einem sehr exklusiven Viertel von Orinda/Kalifornien. Manchmal müsste Will für seine Firma nach Deutschland kommen und auf Partys gehen, um für seine Erfindungen zu werben.

Das Spiel, mit dem sich also Gott nächtelang beschäftigen würde, ginge so: Wolf, Lissy und Will bekämen zunächst ein Lebensziel verpasst, zum Beispiel sehr, sehr klug werden. Oder reich. Oder berühmt. Oder ein glückliches Familienleben haben. Oder zumindest viel Romantik erleben. Dann müsste Gott seine Spielfiguren per Mausklick dazu bringen, erfolgreich aufs Klo zu gehen, zu duschen, Karriere zu machen, mit den Nachbarn zu reden, einen Partner zu finden, Kinder zu zeugen oder einen Swimming-Pool zu benutzen. Natürlich könnte Gott auch richtig fies sein und seine Spielfiguren zu bettnässenden, übel riechenden, erfolglosen, asozialen, psychotischen Versuchskaninchen machen, die er im Pool ertränkt, wenn sie ihn zu sehr nerven. Oder er könnte ihnen auch einen Computer kaufen, auf dem Wolf, Lissy und Will dann ein Spiel spielen, das genauso funktioniert wie jenes, das Gott spielt...

Willkommen bei den Sims, genauer gesagt: bei der Fortsetzung jener Lebenssimulation, die in den vergangenen vier Jahren zu einem der erfolgreichsten Computerspiele aller Zeiten wurde, mit mehreren Millionen Spielern weltweit. Seit Mitte September ersetzen nun die Sims 2 ihre Vorgänger auf den Festplatten, und ein Ende der Erfolgsgeschichte ist nicht abzusehen. Dabei ist die Spielidee der Sims trivial: Lebe ein (oder mehrere) virtuelle Leben ­ als Rentner im Einfamilienhaus; als Hausfrau, die mit Freunden quatscht; als Computer-Designer, der auf Partys geht. Oder stürze dein virtuelles Ego vielleicht doch lieber in ein ganz anderes Leben. Niemand muss bei den Sims die Welt retten, aber jeder muss sich Gedanken über das Verhältnis zu den Nachbarn machen, den nächsten Gehaltsscheck oder die passende Inneneinrichtung ...

Ein Mausklick zu Wolf: Das Wohnzimmer ist mit einer Vase voll Plastikblumen dekoriert. Wolf von der Osten-Sacken sitzt am Tisch und raucht eine "Globetrotter Gold". Mit seinen 64 Jahren gehört er zu den Oldies unter den Sims-Spielern. Das macht ihm aber nichts aus. Sagt er. "Da gibt es noch viel mehr ­ die trauen sich bloß nicht, das zuzugeben." Wolf hat Recht: Die Sims tauchen längst nicht mehr nur in Kinder- und Jugendzimmern auf ­ im Vergleich zu anderen Computerspielen sind sie überproportional auf den Festplatten von Erwachsenen sesshaft geworden. Vor allem bei Frauen. á

Ein Mausklick zu Lissy: Lissy Andersson lacht etwas verlegen. "Vier bis fünf Stunden sind es schon pro Tag." Sie schaut zu Michael, ihrem Mann. "Und es wird immer mehr", frotzelt der. "Manchmal gibt es Streit, wer denn jetzt an den Rechner darf." Wenn Lissy dran ist, dann weiß Michael, dass er sie in den nächsten Stunden erst mal in Ruhe lassen muss. "Ich entspanne bei den Sims", sagt Lissy. Aus Lissy wird in solchen Stunden "Freggi". Eine, die Traumhäuser für die Sims baut, pixelgenau Schlafzimmer tapeziert, Sims-Foto-Lovestorys erfindet und in Internetforen über die Kleider-Entwürfe ihrer Mitspieler diskutiert. "Custom Content" nennt sich das, virtuelles Zubehör, das von Sims-Fans entwickelt, getauscht und manchmal sogar ver- und gekauft wird. Gerade dieses "Nebenschöpfertum" hat die Sims so populär gemacht.

Ein Mausklick zu Will: Der Schöpfer macht eine Pause draußen auf der Terrasse, drinnen in der noblen Hamburger Elbchaussee-Villa E96 gibt es gerade American Burgers, Kartoffelecken und Kaktusfeigencocktails. Seit Wochen tourt Will Wright, der Großmeister des Simulations-Genres und Vater aller Sims, in Sachen Sims 2 durch die Welt und macht Werbung für seine neue Schöpfung. In den 80er Jahren, als er noch mit einer Stadtplanungs-Simulation auf dem Computerspiele-Markt hausieren ging, interessierten sich die großen Software-Hersteller noch herzlich wenig für Wills Ideen. Doch SimCity, so der Name der Stadt-Simulation, wurde ein Riesenerfolg ­ und veränderte die Spielelandschaft. Zahlreiche weitere Simulationsspiele folgten. Längst ist Will mit seiner Firma Maxis von Electronic Arts geschluckt worden, dem Weltmarktführer für Computerspiele.

Das hat auch Vorteile: Sims 2 ist eines der aufwändigsten Spiele, die Electronic Arts und Maxis bisher produziert haben. Ein 140 Personen großes Entwicklerteam arbeitete vier Jahre lang daran, den Sims endlich mehr beizubringen, als auf Mausklick zu duschen, aufs Klo zu gehen oder das Geschirr zu spülen. Neue Entwicklungen in der künstlichen Intelligenz, einem Forschungsgebiet, das inzwischen vor allem in der Spielebranche heftig beackert wird, haben den neuen Sims mehr Geist eingehaucht. Und was ist nun die wichtigste Neuerung? "Das Bewusstsein", sagt Will, "das Bewusstsein."

Was ist der Sim des Lebens?

Als Kind liebte es Will, Modelle zu bauen, von Schiffen und Flugzeugen, von Panzern und Robotern. Manchmal bastelt er noch mit seiner Tochter so genannte BattleBots zusammen, mit denen sie gemeinsam bei Wettbewerben antreten. "Maschinen sind auch ein gutes Mittel, um Menschen zu verstehen", sagt Will.

Menschen als komplexe Systeme begreifen, als Maschinen mit zahllosen Stellschrauben, Warnleuchten und Schnittstellen zu anderen Maschinen, als Input-Output-Matrix, darum geht es auch bei den Sims. Glück als mathematisch erreichbares Ziel. In der Urfassung der Sims noch auf sehr niedrigem Niveau: Leuchtete die Harndrang-Anzeige rot, musste der Sim zur Toilette geschickt werden oder es passierte ein Malheur. Warnleuchte Hunger? Essen kochen oder Pizza bestellen. Energieniveau zu niedrig? Ab ins Bett. Die meiste Zeit verbrachte der Spieler bei Sims 1 deshalb damit, die Grundbedürfnisse seiner virtuellen Schützlinge zu befriedigen. Das ist jetzt anders. "Früher ähnelten sie Tieren", sagt Will. "Jetzt haben sie Persönlichkeit."

Für Will bedeutet das: Die Sims sind auf der Maslow'schen Bedürfnispyramide nach oben geklettert. Der Psychologe Abraham Maslow, auf den sich Will in Interviews gern beruft, entwickelte Mitte des 20. Jahrhunderts eine Theorie, nach der menschliche Bedürfnisse hierarchisch geordnet sind, zuerst müssten Bedürfnisse der ersten Stufe (zum Beispiel nach Nahrung, Kleidung, Wohnung) befriedigt sein, bevor es um Sicherheitsbedürfnisse oder soziale Kontakte gehen könne. Und erst wenn auch diese gestillt sind, könne sich der Mensch um sein Bedürfnis nach Wertschätzung und Selbstverwirklichung kümmern.

Mit so genannten Lebenszielen haben die Sims-Entwickler versucht, auch die Spitze der Bedürfnispyramide auf die Sims zu übertragen: "Alle Sims haben ein Lebensziel, das als Laufbahn bezeichnet wird", heißt es in der Spielanleitung. "Die Laufbahn eines Sims hat starken Einfluss auf seine Wünsche und Ängste. Je mehr du dem Sim dabei hilfst, seine Wünsche zu befriedigen, desto größer ist seine Chance, seine Laufbahn zu erfüllen. Und was passiert dann? Du hast dann einen glücklichen, gut angepassten Sim, der Belohnungsgegenstände erhält, mit denen er Herausforderungen meistern kann. So hebt sich dein Sim aus der Masse hervor und lebt ein langes Leben!" Einen gut angepassten Sim, der sich aus der Masse hervorhebt! Nur wenige Sim-Spieler können darin noch einen Widerspruch erkennen.

In den Sims steckt mehr Weltanschauungsunterricht als flapsige Spielanweisungen, Comic-Darstellung und Seifenoper-Anmutung vermuten lassen. Nicht ohne Grund gilt Sim-Vater Will als "Philosophenkönig der Computerspielbranche". James Lovelock, dem Mitautor der "Gaia"-Hypothese, verdankte Will den Gedanken, die Erde auch als einen selbstregulierenden Organismus betrachten zu können ­ und produzierte prompt ein passendes Spiel (SimEarth, erschienen 1990). Die Studien des Evolutionsbiologen und Ameisenforschers Edward O. Wilson inspirierten ihn zu einer Ameisenstaat-Simulation (SimAnt, erschienen 1991). Für die Sims schließlich beschäftigte sich Will mit der Frage, die ­ wenn wir ehrlich sind ­ unser modernes Leben wirklich ausmacht: Welche Tapete passt zum Sofa?

Was ist gut? Was ist böse?

Deko statt Descartes, Yucca-Palme statt Jahwe. Bei den Sims zählen die Details des Alltags. Und wie viel sie möglicherweise kosten. Nicht der große Entwurf interessiert, sondern das Lösen des Budgetproblems: Wie viel Lebenszeit aufwenden für den Haushalt, den Partner, die Freunde oder den Beruf? "Die Leute erkennen das Jonglieren", sagt Will. "Sie wachen ein bisschen mehr auf und sehen, dass sie dieses Spiel im realen Leben gespielt, aber bisher nie durchschaut haben." Wenn das Leben eine buchhalterische Aufgabe ist, dann sind die Sims die Lehranstalt.

Wie einst bei Wilsons Ameisenkolonien ist auch bei den Sims "Emergenz" das Zauberwort: Wie aus den vielen kleinen unbedeutenden Zielen einzelner Figuren ein großes Ganzes wird. Dazu passt auch, dass bei den Sims keine "große Geschichte" erzählt, keine Heldenreise von den Programmierern vorgegeben wird. Die vielen kleinen (eigenen) Geschichten der Spieler mit ihren Figuren stehen im Mittelpunkt. Wirklich erlebte genauso wie erträumte.

Ein Mausklick zu Lissy: Im September sind Lissy und ihr Mann eingezogen. Eine mehrstöckige Villa mit Swimming-Pool, umgeben von prächtigen Bäumen und Pflanzen. Ein Traumhaus ­ in Rekordbauzeit erstellt. Und als Download auf Lissys Sims-Forum erhältlich. "Natürlich ist das eine Scheinwelt", sagt Lissy. "Aber das darf ja auch sein." Manchmal geht sie mit ihren Sims auch an Grenzen, die sie in der realen Welt nie in Erwägung ziehen würde. "Flirte ich mit dem verheirateten Nachbarn oder nicht? Ein paar Mal hat's meine Sims- Frau geschafft, aber ein, zwei Mal hat sie dafür auch eine gewaffelt bekommen."

Manche Sims-Spieler gehen noch weiter und lassen die Leben ihrer virtuellen Schützlinge auch bewusst scheitern. "Sie haben hier in der virtuellen Welt einen Raum, in dem sie nicht den Urteilen anderer ausgesetzt sind und können egoistischen und gegen Normen verstoßenden Neigungen nachgehen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen", erklärt die Sozialwissenschaftlerin Tanja Witting von der Fachhochschule Köln, die in einem Forschungsprojekt die Sims untersucht hat.

Soll man das Altern abschalten?

Lissy schmunzelt: Ja, manchmal habe sie schon ein paar harte Sachen mit ihren Sims gemacht. Eine Familie im Pool ertrinken lassen oder einem Kind die Mutter weggenommen. "Aber ich hab's nicht abgespeichert", sagt die quirlige Frau aus Celle. Irgendwann, so die Hoffnung der Sims-Entwickler, werden die virtuellen Wesen so viel Persönlichkeit besitzen, dass es ihren menschlichen Gegenüber schwer fällt, ihnen Derartiges zuzufügen. Vielleicht sogar, dass sie es schaffen, Menschen zum Weinen zu bringen. Die neuen Sims jedenfalls verfügen über Eigenschaften, die viele Spieler erst mal schmunzeln lässt: Sie "erinnern" sich an ihre Verwandschafts- und Freundschaftsverhältnisse, haben ein Langzeitgedächtnis, mit dem sie sich auch herumplagen müssen, und sie vererben ihre Eigenschaften an ihre Nachkommen. Damit sind sie den Wesen vor dem Bildschirm einen Simulationsschritt näher gekommen. Eine neue Eigenschaft der Sims jedoch bleibt bei den Sims-Spielern umstritten: das Altwerden.

Ein Mausklick zu Wolf: Etwas ratlos schaut er schon drein, der Fachmann für Sim-Tools ­ Zusatzprogramme, mit denen man die Sims noch besser manipulieren kann. "Dann hab ich da ein paar hübsche, nette junge Leute und dann spiel ich ein bisschen und jetzt werden die plötzlich alt. Und irgendwann kommt der Sensenmann und dann sind sie weg. Das ist ziemlich betrüblich." Er zieht an seiner Zigarette. Die Vorstellung, viele Stunden lang für seine Sims Häuser einzurichten und Beziehungen zu optimieren ­ und sie dann sterben zu sehen, diese Vorstellung gefällt ihm nicht. "Da ist es zumindest gut, dass man den Alterungsprozess abstellen kann."

Dann erzählt Wolf noch von einer der umfangreichsten Diskussionen, die es im Sims-Forum gibt und an der er auch mit zahlreichen Beiträgen teilgenommen hat, Thema: "Wie findet ihr den Irak-Krieg?" Über 8000 Beiträge seien da schon eingegangen.

Der Tod wird bei den Sims übrigens ganz einfach besiegt: Erst "STRG + UMSCHALT + C" drücken, dann "Altern aus" eingeben.

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