Sie sind laut, benehmen sich rüpelhaft, leben in ihrer eigenen Welt. Eltern, Schule und Gesellschaft haben ihre liebe Mühe mit den Jungs. Oder müsste ihnen nur mal jemand richtig zuhören?
07.10.2010

Es war halb acht und sie waren zu viert. Sie unterhielten sich lautstark über die Schule, die gleich begann. Sie liefen auf die U-Bahn-Rolltreppe zu, und alle gingen ihnen aus dem Weg. Sie nahmen mehrere Stufen auf einmal, boxten sich und liefen die Stufen gegen die Fahrtrichtung hinauf. Sie rissen sich an den Jacken, warfen sich halb um und zogen sich wieder hoch. Vier gut gelaunte Jungen, vielleicht 14, 15 Jahre alt, an denen die Erwachsenen mit eisiger Miene vorbeistarrten.

Es ist kurz vor acht Uhr. 29 Jungen stehen vor ihrem Klassenraum. Einige kicken mit einem Tennisball, einige drücken die Tasten ihrer Handys. Die Stimmung ist gelöst bis chaotisch: In drei Tagen sind Ferien. Bis dahin kein Unterricht mehr. "Projekt ­ bitte nicht stören", steht auf einem Pappschild, das an der Türklinke baumelt. Drinnen erwartet sie Bernd Drägestein, Jungenpädagoge.

Worum soll es gegen? "Um unsere Männlichkeit"

Ein eigenartiger Typ, ganz anders als so ein Lehrer. Steht da und schaut jeden Einzelnen intensiv an. Es dauert, bis sich alle gesetzt haben. Murmelnd erwidern sie sein "Guten Morgen". Ob sie wüssten, um was es in den nächsten drei Tagen gehen soll, fragt Drägestein. Allgemeines Achselzucken. "Um Sexualität", sagt einer. Er hebt dabei den Zeigefinger und setzt eine ironisch-gewichtige Miene auf. "Um unsere Männlichkeit", kommt es aus der anderen Ecke und es klingt schon mehr nach einer Frage. Da wurde doch neulich dieser Zettel verteilt: "Workshop Sexualität und Männlichkeit".

Und schon reden sie durcheinander. Ob sie sich Pornos angucken werden, ob man auch über Mädchen reden darf, wann denn Pause ist. Einer tritt vor: "Wir klären uns selber auf!" Bernd Drägestein bittet um Ruhe. "Wir sind sonst noch lauter", sagt einer mit Pudelmütze. Also kein Grund, sich aufzuregen. Und Bernd Drägestein regt sich nicht auf, sondern legt fest, welche Regeln für die nächsten Tage gelten: Wer was sagen will, melden! Jeden ausreden lassen! Keine abfälligen Bemerkungen! Den anderen respektieren! Alle einverstanden? Die meisten nicken.

Die Jungs nennen nacheinander ihre Namen. Viel mehr sagen sie nicht. Probleme? Keine großen. Wenn Bernd Drägestein nachhakt, fallen die Antworten mager aus: "Keine Ahnung." ­ "Weiß nicht." ­ "Noch nicht drüber nachgedacht." Nur John erzählt, dass es ihm keineswegs immer gut geht. Öfters ist er niedergeschlagen und nachdenklich. Eben weil er oft Stress mit seiner Mutter hat. Nicht das übliche Generve, sondern richtig ernste Auseinandersetzungen, die ihn noch tagelang beschäftigen. Weshalb oft die Lehrer dächten, er sei gedanklich weit weggeflogen ­- nur weil er nachdenkt.

Andere werden mutiger, geben mehr preis als nur ihren Vornamen und ihre Lieblingssportart. Manche haben noch weiche, fast kindliche Gesichtszüge. Bei anderen reckt sich das dunkle Kinn kantig. Einige hören sehr ernsthaft zu, andere brechen fortlaufend in schwer zu stoppendes Gelächter aus. René ist so einer. Von eher kleiner Statur, was seine weite HipHopper-Hose mit den aufgesetzten Seitentaschen noch unterstreicht. Wie ein Flummi hüpft er auf und ab, findet alles zum Kichern. Warum? "Weiß ich selbst nicht", sagt er und muss darüber noch mehr kichern. Drägestein glaubt ihm das aufs Wort.

Einen Film wollen sie sehen, das haben viele auf die Karten geschrieben, die Drägestein ihnen gegeben hat. Na, so einen Film zum Thema eben. "Eines kann ich euch gleich sagen", sagt Bernd Drägestein, "wir werden hier mit Sicherheit keinen Film sehen." Weil dann alle nur abhängen und maximal froh sind, dass die Zeit verrinnt. Kurzes Gemaule. Kein ernsthafter Widerspruch.

"Ficken, lecken, blasen ­- bis die Eier rasen."

Die Jungen sollen aufschreiben, was sie interessiert und worüber sie reden wollen. Auf einer Karte steht: "Ficken, lecken, blasen ­- bis die Eier rasen." Die halbe Klasse lacht sich kaputt. Sie wollen gar nicht mehr aufhören. Nun reicht es den Älteren. Sind sie hier im Kindergarten? "Hey, das ist doch alles ganz normal", sagt Henning mit dunkler Stimme, "seid ihr denn bescheuert?" Schnell ist es ruhig. Die, die eben so gelacht haben, gucken vor sich auf den Boden.

Auf einer anderen Karte steht: "Ich weiß schon alles?" Bernd Drägestein muss grinsen. Das Fragezeichen offenbart unabsichtlich viel. Ständig ist von Sex die Rede. Überall heißt es, die Kids wüssten immer früher immer besser Bescheid ­ anders als alle Generationen je zuvor. Was darf man denn da als Junge noch fragen? Drägestein greift eine Bemerkung von Bob auf, wie sie Robert nennen: "Wir reden ständig über unseren Schwanz, aber wir reden nicht wirklich darüber. Wir machen halt dumme Sprüche." Was würden sie tun, wenn sie mal ernsthaft darüber reden müssten? Wenn sie da ein Problem hätten, eine Entzündung, einen Abszess, Schmerzen beim Pinkeln, rein theoretisch. "Abwarten", sagt Hakan und wippt mit seinem Stuhl. Und wenn es nicht von selber weggeht? "Na, nichts." Einer sagt: "Wenn ich einen Vater hätte, würde ich den fragen." Es wird still.

Es bleibt ziemlich lange still. "Zum Arzt gehen", sagt Jürgen schüchtern, wüsste aber keinen, zu dem er gehen könnte. "Es vielleicht 'nem Kumpel erzählen", kommt noch. So richtig überzeugend klingt auch das nicht. So vergeht die erste Stunde ­ zäh und aufschlussreich. Nein, diese Wesen sprudeln nicht über vor Mitteilungsdrang. Sie reden, wenn überhaupt, in Halbsätzen. Dafür lieben sie den drastischen Ausdruck: Sie sagen nicht "sich selbst befriedigen" oder "onanieren"; sie sagen "wichsen" und begleiten das mit der entsprechenden Handbewegung. Sie wissen auch genau, was Erwachsene von ihnen hören wollen (und ignorieren es). Sie wissen, dass man nicht alles stemmen können muss im Leben (und signalisieren, dass ihnen immer alles gelingt). Sie wissen, dass es ganz selbstverständlich ist, über Sexualität zu reden (und müssen ständig Witze darüber reißen). Sie wissen, dass man im Falle eines Streits argumentieren soll (und würden lieber gleich die Ärmel hochkrempeln). Sie wissen, dass Schwulsein ganz normal ist (davon später).

JUNGE zu sein, hat den Vorteil...

Jetzt sollen sie Sätze vervollständigen wie "JUNGE zu sein, hat den Vorteil..." und "JUNGE zu sein, hat den Nachteil..." Dazu soll sich die Gruppe teilen. Im Klassenraum bleiben die Lauten; die, denen zu allem ein cooler Spruch einfällt. In einem anderen Raum treffen sich die Leisen. Wer zählt sich zu den Leisen?

Niemand meldet sich. Noch mal: Wer würde sagen, dass er eher still und zurückhaltend ist? Zögernd gehen einige Arme nach oben. Fünf, sechs, acht ­ mehr nicht? Also einzeln abfragen. Mit demselben Ergebnis. Niemand will zu den Leisen gehören. Und doch gibt es unter den angeblich Lauten einige, die sich zu der Gruppe der Leisen gesellen. Wenig später sieht man ihnen an, wie sie es genießen, mal in Ruhe zu reden und zuzuhören.

Am Ende sind die Lauten und die Leisen sich einig: Es gibt mehr Nachteile als Vorteile. Jungen haben mehr Stress mit den Eltern, überhaupt steht ihnen mehr Ärger ins Haus. "Dass man immer die Schuld bekommt", hat einer geschrieben. Alle nicken. Konkrete Beispiele wollen ihnen dazu nicht einfallen. Es ist mehr so ein Gefühl. Dass man sie schneller missversteht als die Mädchen. Dass man sich nicht so viel Mühe gibt, ihnen zuzuhören, und ihnen länger böse ist. Bei den Mädchen ist ein Krach viel schneller aus der Welt. Schwer zu greifen.

Die Konzentration verweht binnen Sekunden. Hektik bricht aus ­ in einer Minute ist es zwölf. Nur mit Mühe bringt Drägestein 29 Jungen dazu, eine Art "Auf Wiedersehen, bis morgen" in den Raum zu donnern. Der Pausengong ertönt und es ist, als rattere ein schwerer, eiserner Rollladen herunter.

Am Morgen danach: irritierende Ruhe. Einer rückt mit seinem Stuhl, einer gähnt, einer kaut am Frühstücksbrötchen vom Schulkiosk. Bernd Drägestein hat ein Quiz vorbereitet. Die Jungen müssen in Gruppen Fragen beantworten und Aufgaben lösen. Stimmt es, dass Viagra macht, dass einem der Penis auf vierzig Zentimeter anwächst? Bob hat schon geahnt, dass das Quatsch ist. Aber sicher war er sich nicht. Eine Gruppe bekommt einen verschlossenen Umschlag überreicht. Sie soll entscheiden, welches der darin enthaltenen Bilder am erotischsten ist. Und sagen, warum. Sie stecken erwartungsvoll die Köpfe zusammen, und sind enttäuscht: Das sind ja Bilder von Männern!

Schnell werden sie mit denen fertig. Sie entscheiden sich für einen Jüngling im Anzug, der mit einem Glas Sekt in der Hand am Boden hockt; um ihn herum eine Parade aus nackten Frauenbeinen. Bob deckt mit der Hand den Mann ab: "Wir interessieren uns nur für Frauen." Gibt es nicht auch interessante Männer? "Männer sind nicht schön", sagt Bob. Und er selbst ­ findet er sich schön? Bob reißt die Augen auf. Wildes Gestammel. Er weiß nicht, was er sagen soll.

Von irgendwo kommt ein Spruch, die ersten lachen, Bob lacht mit, die Situation ist gerettet. Das Spiel kann weitergehen. Alle sind entspannt und zugleich konzentriert dabei, der Vormittag geht rasch zu Ende. Aber nach einer Pause steht plötzlich Klaus auf dem Flur. Er hält den Kopf gesenkt, Tränen rinnen über sein Gesicht. Sofort bildet sich eine Traube um ihn herum. Was ist los? Nur mit Mühe lässt sich die Klasse dazu bewegen, zurück in den Raum zu kommen.

Jetzt sitzen sie da wie auf dem Sprung. Nur Klaus hockt zusammengekauert auf seinem Platz. Er will nicht erzählen, was eben war. Till hat ihn geschubst. Ziemlich derbe, finden es die, die es zufällig gesehen haben. Andere fanden es nicht so arg. Offensichtlich geht es um mehr.

Marcel meldet sich. Er ist einer der Jüngsten. Er gehört eher zu denen, auf die Sprüche niederprasseln und die sich das gefallen lassen. Doch jetzt zeigt er quer durch den Raum auf Till und seine Clique. Die ahnen, dass die Sache diesmal nicht mit einem lockeren Spruch erledigt sein wird. Ständig würden sie und besonders Till ihn und Klaus anmachen. Sie richtig beleidigen. Dass sie schwul seien. Dass sie's miteinander treiben würden. Vor der Schule, nach der Schule, auf dem Schulklo. Viele nicken.

"...immer mit diesem dämlichen Schwulsein."

"Von Anfang an habt ihr euch auf die beiden gestürzt!", sagt Dirk, der sonst nicht viel sagt, "immer mit diesem dämlichen Schwulsein." Halblaut murmelt Till vor sich hin: "Da gibt es nichts zu sagen." ­ "Ist doch schon alles gesagt." ­ "Das bringt doch jetzt nichts mehr." Er winkt ab, wenn er das laut sagen soll. Die anderen lassen nicht locker. Dass es einfach nicht okay ist, wenn man sich Schwächere, Jüngere vorknöpft und sie triezt und piesackt. Alle reden durcheinander. Drägestein muss fast brüllen, damit sie sich ausreden lassen. "Wir verarschen uns alle", will Holger die Wogen glätten, "is' halt lustig." ­ "Aber es gibt Grenzen!", weist ihn Bob zurecht. Und was der eine abkann, macht den anderen fertig.

Das ist nicht mehr die Klasse von gestern. Es gärt. Drägestein muss immer wieder dazwischenrufen. Till ist recht blass geworden. Er ruckelt auf seinem Stuhl hin und her; ist bis an die Stuhlkante gerückt. Till sagt: "Ich hör auf damit." Er hebt zwei Finger: "Ich verspreche, dass ich Klaus nicht mehr ärger." Meint er es ehrlich?

Schon Viertel nach zwölf! Während die Schüler aus dem Klassenraum stürzen, geht Till auf Klaus zu. Es fällt ihm schwer. Sie stehen sich gegenüber. "Ich wollte mich entschuldigen", sagt Till, "kommt nicht mehr vor." Klaus nimmt die Entschuldigung an, sie geben sich die Hände.

Damit ist die Sache nicht erledigt. Am nächsten Morgen wollen die Jungs wissen, wie es nun weitergeht. Die Entschuldigung ist was wert, sicher, aber was wird sein, wenn nach den Ferien wieder ganz normaler Unterricht ist. Wenn niemand mehr ausdrücklich Regeln einfordert, wie es Bernd Drägestein macht.

Drägestein räuspert sich. Seine Stimmbänder haben sich leidlich erholt. Was meint Klaus, mit wie viel Prozent Tills Entschuldigung von Herzen kam? Klaus überlegt nur kurz. "So fünfzig Prozent." Und mit wie viel Prozent hat Till seine Entschuldigung auf den Weg geschickt? "Achtzig Prozent." Denn er hat keinen Bock mehr auf den ganzen Stress. Skeptische Gesichter. Henning bietet sich an, Dirk und Bob auch: Sollte es nach den Ferien weitergehen wie bisher, dann werden sie es vor allen zur Sprache bringen. Klaus nickt. Till nickt. Allgemeines Gemurmel.

Die Jungen reden weiter. Sie wollen von nun an überhaupt darauf achten, weniger derbe Sprüche zu machen. Vor allem gilt: Aufhören, wenn einer sagt, dass es reicht! Klaus sitzt wieder aufrecht auf seinem Stuhl. Till zieht die Schultern zusammen. Er wird den Rest des Workshops seine wattierte Jacke nicht ausziehen.

Piercings, fette Armbanduhren, weiße Turnschuhe ­- mal cool, mal uncool.

An der Wand hängen auf Papier gezeichnete Umrisse von Jungen, lebensgroß. Drum herum steht, was cool ist und was uncool. Diskutiert, gezeichnet und geschrieben haben die Jungen ziemlich lebhaft. Jetzt läuft das Gespräch schleppend, lustlos. Bis Holger mit einer lässigen Handbewegung sagt, Brillen seien voll uncool. Bob springt hoch und setzt seine Brille auf: "Was hast du gegen 'ne Brille?" Nichts ­ denn die von Bob ist cool, weshalb sie ihn manchmal den "Professor" nennen. Aber dann gibt es diese Kassengestelle, und es gibt die Brillen, von denen einer denkt, dass sie cool sind, dabei sind sie so was von uncool. Und so ist es auch mit Tattoos, irgendwie. Die sind uncool. Aber als Drägestein fragt, wer sich eins machen lassen will, gehen zehn, zwölf Arme hoch. Weil Tattoos eben genau die richtige Größe haben und am richtigen Fleck sitzen müssen. Wer sich mal eben im Suff den ganzen Arm tätowieren lässt, ist natürlich total uncool! Das ist wie mit Handys: Große sind cool und kleine auch, kommt drauf an. Auch Piercings, fette Armbanduhren, weiße Turnschuhe ­- mal cool, mal uncool.

Bernd Drägestein ist aufrichtig verwirrt. Wie findet man sich denn da als Junge zurecht? Ganz einfach: "Du musst Style haben!" Henning und John erklären, wie das geht. Also erstens: "Wer jetzt losgeht und sich von oben bis unten in Markensachen einkleidet, der ist für mich ein Depp." Genauso blöd ist einer, der ins Fitnessstudio geht, um andere zu beeindrucken. "Hey, das machst du für dich und für niemand sonst!" John nimmt Anlauf: "Style entwickelt sich", sagt er und erzählt, wie er manchmal nur ein schlichtes weißes T-Shirt zur schwarzen Lederjacke trägt und dann wieder von Kopf bis Fuß irgendwas Verrücktes, Buntes. "Du musst das einfach sein", sagt Henning, "was du trägst, muss zu dir passen." Und einen guten Ruf muss man haben. Ein Junge mit Style gilt als fair, ehrlich und verlässlich; nicht als einer, der viel quatscht und nichts beschickt kriegt.

Die Jüngeren hören konzentriert zu. So geht das also. Sagt einem ja niemand. Drägestein will wissen: Wie ist das überhaupt mit Klamotten. Können sie sich kaufen, was ihnen gefällt? Gibt es deswegen Ärger zu Hause? Na ja, brummelt es hier und da. Niemand steigt ein. Falsches Thema.

Egal, die Stimmung ist entspannt, das Interesse da. Jetzt könnte es weitergehen: Klartext reden, in kleineren Gruppen. Bei den Älteren steht an: Wie schafft man es, dass eine Beziehung etwas länger hält als immer nur einen Monat? Warum verstehen sie oft nicht, was ihre Freundinnen eigentlich von ihnen wollen? Warum fühlen sie sich in Konflikten schnell unterlegen?

Aber nun ist Schluss. Merkwürdige drei Tage. Ungewohnt jedenfalls. Aber gut. Doch. Diese Rückmeldung geben sie Bernd Drägestein, durch die Bank. Und werden währenddessen schon ungeduldig, hippeln rum ­ die Ferien!

Bernd Drägestein stellt sich in die Tür. Jeder Einzelne muss an ihm vorbei. Man hat sich schließlich kennen gelernt. Hat Dinge erzählt, die man sonst für sich behält. Hat gespürt, was man sonst nicht so gern wahrnimmt: Unsicherheit, Scham, Trotz; aber auch einen Grundstock an Stolz und Stärke. Einer nach dem anderen reichen sie Drägestein die Hand. Die eine packt kräftig zu, die andere zögernd. Kaum auf dem Flur, beginnen sie zu laufen, zu brüllen, zu rempeln.

Unsere Jungen sind ins Gerede gekommen. Irgendetwas ist mit ihnen nicht in Ordnung. Bei der PISA-Studie schneiden in den meisten Fächern Jungen deutlich schlechter ab als Mädchen. Ihr Schüleranteil an weiterführenden Schulen sinkt, während er bei den Schulabbrechern steigt. Auch außerhalb der Schule stehen Jungen unter Verdacht: Jugendgewalt ist tatsächlich Jungengewalt, sagen viele Kriminologen. Mediziner, Psychologen und Soziologen erforschen die fremde Welt der Jungen. Erste Erkenntnis: Unsere Jungen sind schlecht gerüstet für eine Welt, in der Muskelkraft immer weniger zählt, Einfühlungsvermögen, Kommunikationsfähigkeit und Flexibilität jedoch immer mehr. Zweite Erkenntis: Das Problem ist durchaus hausgemacht, halten sich doch viele Männer noch immer aus dem Erziehungsgeschäft heraus. Daheim die Mutter, im Kindergarten die Kindergärtnerin, in der Grundschule die Lehrerin -­ sie reagieren intuitiv kritisch, einschränkend und oft schlicht hilflos, wenn Jungen sich so zeigen, wie sie (auch) sind: unbändig, Grenzen auslotend, körperbetont. Ebenso mangelt es den Jungen an überzeugenden Vorbildern. Eminem, Jean-Claude van Damme und die Klitschko-Brüder mögen beliebt sein ­ für die Bewältigung des Alltags sind sie nur begrenzt tauglich.

Dann und wann nimmt sich die Politik der Jungen an.

Dann und wann nimmt sich die Politik der Jungen an. Dann werden zum Beispiel Männerquoten fürs Lehrpersonal gefordert oder mehr Teilzeitstellen für berufstätige Väter. Parallel hat sich eine wachsende Schar von Jungenpädagogen ans Werk gemacht ­ einer davon ist Bernd Drägestein vom Verein "Mannigfaltig e. V." in München. Sie bieten Seminare, Workshops, Beratung an; ihr Angebot richtet sich an Eltern, Erzieherinnen, Lehrer, an die Jungen selbst.

Der Workshop an der Artur-Kutscher-Realschule im Münchner Stadtteil Moosach ist Teil eines Versuchs, Jungen nicht einfach mitlaufen zu lassen, sondern sich um sie zu bemühen. Seit kurzem gibt es an der Schule neben einer Mädchenbeauftragten einen Jungenbeauftragten. Darüber hinaus entstehen oft so genannte Bubenklassen, wenn Jungs und Mädchen unterschiedliche Fächerkombinationen wählen. Die Erfahrungen damit sind ermutigend: Nach turbulentem Start entwickeln sie sich zu hoch motivierten Lerngruppen. Um eine solche neu gegründete Jungenklasse zu unterstützen, fand dort ein dreitägiger Workshop zum Thema "Sexualität und Männlichkeit" statt. Damit diese Veranstaltung trotz knapper Mittel durchgeführt werden konnte, hat "chrismon" sich an den Kosten beteiligt. Autor Frank Keil nahm an dem Workshop als Kotrainer teil. Die Eltern waren über das Projekt informiert und beurteilten es wohlwollend. Aus Rücksicht auf die Intimsphäre der Jungen wurden alle Namen geändert. Die Redaktion dankt allen Beteiligten an der Artur-Kutscher-Realschule, besonders den Jungen und ihren Eltern, für die Einblicke in die Lebenswelt der 13- bis 15-jährigen Schüler.

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