"Taktik ist noch immer ein Nischenthema"
Felix EhringLena Uphoff
23.01.2012

Auf der Internetseite www.spielverlagerung.de erklären Tobias Escher (43) und seine Mitstreiter akribisch-unterhaltsam die taktischen Kniffe der Trainer – und weshalb eine Taktik aufgeht oder nicht. Im Interview erzählt der Student der Sportwissenschaft unter anderem, wo uns die Engländer voraus sind und warum Scouting so erfolgreich macht.

Herr Escher, woher kommt Ihr Interesse an Taktik?

Das hat mit circa 18 Jahren angefangen, als José Mourinho Chelsea trainierte, da sind mir taktische Feinheiten aufgefallen. Ich habe mich dann fortgebildet, also Bücher gelesen, viel Fußball geguckt. Sehr empfehlen kann ich das Buch „Revolutionen auf dem Rasen“ von Jonathan Wilson.

Und wie kam es dann zu der Internetseite www.spielverlagerung.de?

Die Seite www.zonalmarking.net war die Vorlage. Diese Seite hat als erste Taktik anhand von Spielanalysen erklärt. Das war mein Anreiz, selbst auch so ein Angebot zu machen.

Wer schreibt für Ihre Seite?

Wir sind ein zusammengewürfelter Haufen von Studenten und anderen jungen Leuten mit verschiedenen Hintergründen. Zu uns gehören große Fans und Trainer. Und ich bin eben sportwissenschaftlich interessiert.

Was muss man können, um bei Ihnen mitzumachen?

Die Begriffe der Fußballtaktik sollte man kennen, ordentlich schreiben können und eben viel Fußball gucken. Wer bei uns schreibt, guckt zehn bis 15 Spiele pro Woche. Wenn man so viel schaut, bleibt auch etwas dabei hängen. Am Wochenende gibt es bei uns eben fast nur Fußball. Dafür muss man schon fußballverrückt sein.

Seit ein paar Jahren redet jeder Sportmoderator von Aufstellungen, Doppelsechs und Verschieben. Wann ging das nach Ihrer Beobachtung los und woran lag das?

Nachdem die deutsche Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft 2000 so früh ausgeschieden war, wollten viele Leute wissen, woran das taktisch gelegen hatte. Das war aber nur der Anfang und noch nicht der Durchbruch für das Thema Taktik. Der zweite große Schritt war wohl die Weltmeisterschaft 2006, als Jürgen Klopp im ZDF Co-Moderator war und auf einfache und verständliche Art und Weise taktische Dinge erklärt hat. Trotzdem ist Taktik in meinen Augen noch immer ein Nischenthema.

Welche Medien lesen und sehen Sie gern, um etwas über Taktik zu erfahren?

Deutsche Medien greifen das Thema ab und zu auf, aber einen profilierten Experten gibt es in Deutschland noch nicht. Der britische Guardian macht eine großartige Fußball-Berichterstattung. Daran könnten sich deutsche Medien orientieren. Manches ist natürlich sehr speziell und interessiert vielleicht kein Millionen-Publikum. Aber wenn zum Beispiel Hannover 96 während der Woche in der Europa League antritt, sitzen eh nur Interessierte vorm Bildschirm. Dann könnte man auch etwas mehr über Taktik sprechen.

Wo entstehen taktische Trends? Gibt es ein Land oder einen Verein, der sehr prägend ist?

Es gab immer wieder Teams, die mit taktischen Änderungen Trends setzten. Derzeit ist es der FC Barcelona: sehr flexibel, sehr dominant. Viele andere Teams versuchen das zu kopieren, mehr oder weniger erfolgreich.

Sehen Sie für die Zukunft ein taktisches System, das sich durchsetzen wird: Ballbesitz oder kompakte Ordnung etwa?

Wenn ich das wüsste, müsste ich nicht den Blog machen. Aber im Ernst: Es gibt nicht die perfekte Taktik, das ist von vielem abhängig, auch vom Gegner.

Gibt es so etwas wie ein Teilsystem, das Sie so ziemlich jedem Team empfehlen würden?

Ein Teilsystem nicht. Aber immer wichtiger wird Scouting, also das Beobachten des Gegners vor dem eigenen Spiel, um zu wissen, wie man ihn knacken kann. Es nützt nichts, eine Taktik immer wieder anzuwenden. Das wird vom FC Barcelona ja immer fälschlicherweise angenommen, dass die nur ihren Ballbesitz-Fußball haben. Aber wenn man mal auf die Nuancen achtet, wie die Spieler zueinander stehen, welche Formation angewendet wird: Das wechselt bei denen von Woche zu Woche, nämlich je nach Gegner. Auch Borussia Dortmund hat immer wieder kleinere Veränderungen im Pressing und in dem Ausmaß, wie sehr sie auf Ballbesitz gehen – je nach Gegner.

Werden individuelle Könner unwichtiger, weil Taktik immer wichtiger wird?

Nein, aber Kreative und Einzelkönner müssen ins System integriert werden. Und auch sie müssen für das System arbeiten. Marco Reus macht bei den taktisch starken Gladbachern viel defensive Arbeit. Gleichzeitig ist er in der Lage, etwas Wunderbares, etwas Kreatives zu schaffen. Messi arbeitet ebenso sehr viel defensiv und sehr gut gegen den Ball, das wird oft nicht anerkannt. Vorn darf er auch mal verrückte Dinge machen. Es kommt auf die Mischung an.

Welche Bundesliga-Mannschaft finden Sie derzeit spannend?

Diese Saison natürlich Gladbach, weil der Trainer es geschafft hat, aus einer eher durchschnittlichen Mannschaft das Beste rauszuholen, schnell zu spielen. Das ist nicht immer Konter, aber schnell von hinten raus, vertikal nach vorn, das ist taktisch hochinteressant.

Und wo ist noch mehr rauszuholen?

Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen: Ich finde, beim VFL Wolfsburg ist mehr drin. Da wird viel durcheinander gewürfelt, Magath hat noch nicht das richtige System für seine Mannschaft gefunden.

Welche Trainer schätzen Sie besonders?

Mittlerweile sind viele Trainer taktisch sehr gut. Das hat sich in den vergangenen fünf Jahren stark gewandelt. Mir gefallen junge Trainer wie Thomas Tuchel oder Robin Dutt, auch wenn Dutt es bei Leverkusen noch nicht ganz bestätigen konnte. Thomas Schaaf oder Jürgen Klopp finde ich taktisch ebenfalls sehr stark.

Wie oft schreiben Ihnen Trainer mit der Bitte um Tipps?

Das kommt mal vor, aber nicht allzu häufig. Oft kriegen wir Lob von Trainern, nicht aus dem Profibereich, aber durchaus aus dem höheren Amateurbereich. Da schreibt schon mal einer: ‚Danke, da konnte auch ich noch etwas lernen.‘ Lob von Fachleuten freut uns.

Verdienen Sie Geld mit den Spielanalysen?

Nein, das ist ein Hobby. Derzeit haben wir 7.000 bis 12.000 Zugriffe täglich auf unsere Seite. Das ist schon sehr ordentlich. Wir wären natürlich froh, wenn wir die Kosten irgendwann mal wieder rein bekämen, aber wir haben keine großen Ambitionen an die Weltherrschaft oder so.

Juckt es Ihnen nicht in den Fingern, selbst Trainer zu werden, da Sie doch soviel wissen und analysieren können?

Einerseits schon. Andererseits habe ich den schönsten Job. Ich kann mir die Spiele anschauen und hinterher meckern und sagen, was man besser machen könnte.

Wie viel Zeit pro Woche stecken Sie in die Analysen?

Während der Woche hält es sich in Grenzen. Die Wochenenden gehen komplett dafür drauf. Das würden sie auch ohne unsere Seite, weil wir ja sowieso ständig Fußball gucken.

Sie wohnen in Hannover. Wie gehen Sie damit um, wenn Sie 96 schauen und neben Ihnen jemand völligen Blödsinn über das Geschehen auf dem Platz absondert?

Das ist in Ordnung, das ist nun mal so im Stadion. Was mich nervt, ist die Ausdrucksweise der Fans im Stadion oder wenn es immer gegen den Schiedsrichter geht.

Wie ist es in der Winter- und Sommerpause? Fehlt Ihnen da etwas?

Zwei Wochen Pause sind in Ordnung, danach juckt es wieder in den Fingern.

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