Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin a. D., ist Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland und Heraus­geberin des Magazins chrismon
Foto: Thomas Meyer
"Die Probleme der ganzen Welt"
Pauschalurteile können eine ganze Gesellschaft vergiften. Wer ernst­haft will, dass sich etwas ändert, muss verbal abrüsten
Irmgard SchwaetzerJulia Baumgart
07.03.2016

„Man wird doch wohl sagen dürfen...“ Wer so anfängt, lässt meist etwas folgen, was er – oder sie – selbst als Tabubruch ansieht, irgendeine pauschale Zuordnung oder Beleidigung. So etwas wie: „Der“ Araber achtet unser Eigentum nicht; er respektiert die Frauen nicht. Dabei weiß auch der, der so redet, dass jeder Mensch seine eigene Würde hat, jeder Mensch anders ist. Es sind eben nicht alle Deutschen fleißig und ehrlich. Und erst recht nicht sind alle Araber Diebe oder belästigen Frauen. Trotzdem werden mit den merkwürdigsten Pauschalurteilen Menschen abgelehnt, ausgegrenzt und letztlich mit Hass überzogen. Es ist ein Hass auf alle, die anders und fremd sind.

Die Worte „Flüchtlingsströme“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ haben ihren Platz in der allgemeinen Diskussion. Und mal ehrlich: Wer von uns benutzt sie nicht zumindest gelegentlich? Aber sie sind ­Etiketten, die den einzelnen Menschen und seine Not zudecken, ihn verschwinden lassen hinter einer Gruppenbewertung, die vor allem dies zeigt: Angst und Abwehr. Die gleiche Wirkung hat auch der absurde Satz: „Wir können nicht die 60 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, bei uns aufnehmen.“ Oder dieser: „Wir können nicht die Probleme der ganzen Welt lösen.“ Ja, fordert das etwa jemand? Nein. Alle reden davon, wie die riesigen Probleme, vor denen wir zweifel­los stehen, zu lösen sind. Aber Übertreibungen schüren nur das Gefühl der Überforderung, die Ablehnung der Fremden und nach und nach den Fremdenhass. Schritt für Schritt kann dies den Zusammenhalt der Gesellschaft zerstören.

Dabei gibt es doch so viel Ermutigendes: Nach wie vor engagieren sich Tausende ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe, be­mühen sich Mitarbeiter in den Verwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen darum, die Zugewanderten unter­zubringen und zu versorgen, die Verfahren schnell durchzuführen. Erzieherinnen und Lehrerinnen lernen in Kindergärten und ­Schulen mit den Migranten die ersten Schritte der Integration. Die Hilfsbereitschaft der Deutschen gegenüber Bürgerkriegsflüchtlingen ist sehr hoch. Rund 88 Prozent sind der Meinung: Es ist richtig, Kriegsflüchtlinge in Deutschland aufzu­nehmen. So hat es das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD festgestellt. Und nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung vom Februar wollen 79 Prozent aller EU-Bürger, dass Europa die Probleme gemeinsam löst und eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge hinbekommt.

Aber warum sind dann die Fremdenfeinde so sehr viel lauter als diejenigen, die daran arbeiten, die Probleme zu lösen? Weshalb widersprechen dann nicht noch mehr Menschen energisch denen, die mit pauschalen, negativen Aussagen das ­Klima in unserer Gesellschaft vergiften? Viele tun es, aber der Schutz unserer ­offenen, ­demokratischen Gesellschaft sollte noch viel mehr Menschen motivieren, ihre Stimme gegen Fremdenfeindlichkeit und Gewalt zu erheben, auch gegen die Gewalt gegen Flüchtlingsunterkünfte.

Zeigen wir, so oft es geht, das menschenfreundliche Gesicht unserer Gesellschaft! Geben wir das Zeichen: Wir überlassen das Feld der öffentlichen und privaten Debatten nicht denen, die unser soziales Klima vergiften. Wir diskutieren mit ­denen, die pauschalisieren und einfache Lösungen fordern. In dieser Debatte ist jeder gefragt. Starke Worte und fortgesetzte Bewertungen helfen allerdings auch nicht weiter. Im Gegenteil: Verbale Abrüstung ist die Voraussetzung dafür, dass wieder Nachdenklichkeit einkehrt. Für politische Analysen und für den Blick auf die Schicksale der einzelnen Menschen. 

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Frau Schwaetzer erreicht bei mir und vermutlich bei vielen anderen Lesern genau das Gegenteil von dem, was sie offenbar beabsichtigt. Sie will die Zustimmung zur Merkelschen Flüchtlingspolitik erhöhen und verwendet dabei drei fragwürdige Mittel:
Erstens tut sie, wie leider sehr üblich, alle Probleme, die mit der bis jetzt ungebremsten und auch unkontrollierten Zuwanderung einhergehen, als Übertreibungen und Unterstellungen ab. Fakt aber ist, dass der Flüchtlingsstrom (den sie als Wort nicht benutzt sehen möchte) nun mal nicht abreißt. Wie so viele in diesem Land möchte sie durch Wortverbot Fakten aus der Welt schaffen. Das grenzt an Wunderglauben.
Stattdessen werden zweitens praktisch alle Menschen, die genau diese Probleme sehen (ob zu Recht oder nicht, ist nicht entscheidend) pauschal als Fremdenfeinde diskriminiert, die – völlig groteske Verkehrung der Wirklichkeit – in Frau Schwaetzers Augen die mediale Öffentlichkeit zu dominieren scheinen. Dabei ist es nur so, dass die merkelfrommen Medien gezielt ständig die absurdesten und rechtsradikalsten Meinungen an die Öffentlichkeit zerren, nur um sich mit sachlicher Kritik nicht auseinandersetzen zu müssen. Differenzierungen zwischen kritischen Meinungen zur Flüchtlingspolitik und sachliche Gegenargumente sind nicht Sache von Frau Schwaetzer.
Dem entspricht, dass drittens die einzigen inhaltlichen Argumente, die die Merkelsche Linie rechtfertigen sollen, Statistiken sind, die eine breite Unterstützung durch die Bevölkerung anzeigen. Abgesehen davon, dass gerade in Deutschland die leidvolle historische Erfahrung zeigt, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht unbedingt langfristig sinnvolle Meinungen vertritt, abgesehen davon ist das zitierte Ergebnis der Bertelsmann-Stiftungs-Studie völlig inhaltsarm: Dass die bei weitem meisten Menschen für eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge im europäischen Rahmen sind, ist doch selbstverständlich und heißt doch nicht, dass sie einer weiterhin unkontrollierten Zuwanderung das Wort reden. Und: Was Frau Schwaetzer aus der Studie natürlich nicht zitiert: „In meinem Land gibt es so viele Ausländer, dass ich manchmal das Gefühl habe ein Fremder in meinem Land zu sein.“ haben dort 53 % der Deutschen gesagt.

„Schritt für Schritt kann das den Zusammenhalt der Gesellschaft zerstören.“ schreibt Frau Schwaetzer über die Kritiker. Könnte es sein, dass sie das besser auch auf sich selbst bezöge?

Bild und Tagesschau können ein Sinken der Flüchtlingszahlen nur behaupten, wenn sie den Zeitraum geschickt auswählen. Die offizielle Asylstatistik des BAMF sagt im Gegensatz dazu: "Im bisherigen Berichtsjahr 2016 wurden 176.465 Erstanträge vom Bundesamt entgegen genommen. ... dies bedeutet einen Anstieg der Antragszahlen um 135,2 % im Vergleich zum Vorjahr."
Quelle: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/201603-statistik-anlage-asyl-geschaeftsbericht.pdf?__blob=publicationFile (Seite 2)

Differenzierung ist auch hier wieder einmal sehr, sehr wichtig.

Wir dürfen z.B. nicht "ankommende Flüchtlinge" mit "Asylerstanträge" verwechseln:
http://de.statista.com/statistik/daten/studie/76095/umfrage/asylantraege-insgesamt-in-deutschland-seit-1995/

Es sind so viele Variablen, die man herausstellen kann, gewisse Zeiträume betrachten.
Zum Beispiel http://www.math.uni-magdeburg.de/~wkahle/luegtstat.pdfoder hier http://de.statista.com/statistik/lexikon/definition/8/luegen_mit_statistiken/

Wie hat Churchill neulich auf Facebook gepostet „Ich glaube nur den Statistiken, die ich selbst gefälscht habe.“

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Sehr geehrte Frau Schwaetzer,
Sie schließen Ihren Artikel mit "... verbale Abrüstung ist die Voraussetzung dafür, dass wieder Nachdenklichkeit einkehrt." Ich behaupte und habe das seit der Eurorettung in 2010 sehr praktisch erfahren, daß es sich genau anders herum verhält: erst wenn bei den Verantwortlichen von Kommunen und Kirchen bis zu Herrn Bedford-Strohm und Frau Merkel hinauf wieder Nachdenklichkeit und Realismus einkehren, wenn die Bürger sich mit ihren Beobachtungen und Sorgen aus dem Alltag wieder ernst genommen fühlen, wenn Politik das ausspricht, was Bürger erleben - dann können viele Bürger, die in den letzten Monaten laut werden mußten, um überhaupt gehört zu werden, wieder "verbal abrüsten".

Die Überforderung ist kein "Gefühl", wie Sie abtun; die Überforderung ist real, weil die Bürger bisher schon sehr viel getan haben, um Fremde, Zugezogene, Flüchtlinge, Wirtschaftsmigranten zu intergrieren - es passiert über die finanziellen Dinge hinaus (Hartz IV-Anteile in verschiedenen Migranten-Kollektiven) so viel im Alltag bis hin zum extra Tisch beim Betriebsfest, weil die ansonsten bestens integrierte und akzeptierte Kollegin mit Kopftuch nicht an einen Tisch sitzen möchte, an dem ein anderer ein Bier trinkt. Auch die verstärkte Konkurrenz um Arbeitsplätze und Mieten ist kein "Gefühl", sondern real.

Die Überforderung entsteht, wenn alles für selbstverständlich vorausgesetzt wird und die Bürger das Gefühl haben, daß die Politik, in wessen Interesse auch immer, immer weiter obendrauf packt und mit "wir schaffen das" ohne Rückfrage und ohne Mandat die Gesellschaft verändert - will der Souverän das?

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Frau Schwätzer hat bei mir das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich habe mich selbst ein halbes Jahr lang in der Flüchtlingskrise engagiert. Menschen wie Frau Schwätzer bin ich leider zuhauf begegnet. Sie machen eine sachliche Diskussion um sachliche Fragen unmöglich. Ich zitiere das Wort eines Kollegen: Politiker lösen keine Probleme, sie machen Probleme. Ich werde das fortan nicht mehr hinnehmen. Ich werde jetzt zu einer Art Michael Kohlhaas.

Antwort auf von Eckhard Scheider (nicht registriert)

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Weil "Michael Kohlhaas" eine fiktive Person ist, lassen wir diese Stelle Ihres Beitrags stehen. Es sei aber ganz klar gesagt, dass wir keinerlei Aufrufe oder dergleichen zu Selbstjustiz dulden!

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