Jesidische Flüchtlingsfamilie Haci
Vor dem Eingang zum Flüchtlingszelt, ihrem Zuhause seit zweieinhalb Jahren: Xwedêda Haci mit seiner Ehefrau Şirin Hiseyn
Christoph Püschner/Diakonie Katastrophenhilfe
Dann eben Australien
Xwedêda Haci und seine Frau Şirin Hiseyn leben seit zweieinhalb Jahren in einer Zeltstadt in Anatolien. Ihre Heimat im Irak mussten sie verlassen, um Tod und Versklavung zu entgehen. Die Grenzen nach Europa sind dicht. Auch die Türkei wird die Jesiden nicht mehr lange dulden
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
Christoph Püschner/Zeitenspiegel
19.10.2016

Seit über einer Stunde beantwortet Xwedêda Haci geduldig alle Fragen. Wie die Kinder heißen, wo seine erste Frau mit ihren Kindern geblieben ist, wo die Familie früher lebte, vor wem er floh, wie er das kurdische Lager Fidanlik im Südosten der Türkei fand. Xwedêda (gesprochen: Chuädehda) hat Zeit, Auskunft zu geben. Viel zu viel Zeit. Seit zweieinhalb Jahren sitzt er in dieser Zeltstadt fest, irgendwo auf dem Land, 20 Kilometer vor der anatolischen Millionenstadt Diyar­bakır. Hier gibt es nichts zu tun. Da kommt es auf die eine oder andere Stunde nicht an.

Xwedêda Haci, 43, antwortet in kurzen Sätzen. Was soll er groß erzählen? Die Kinder seiner zweiten Ehefrau Şirin Hiseyn, 35, heißen Darin, Basil und Hamo; sie sind zwischen sieben und 16 Jahre alt. Hinzu kommt die zwölfjährige Tochter, die mit der ersten Ehefrau und deren Kindern über die Ägäis, Griechenland und den ­Balkan nach Deutschland floh. Hier haben Flüchtlinge prinzipiell das Recht, direkte Verwandte nachzuholen: Minderjährige ihre Eltern; Eltern ihre minderjährigen Kinder; Erwachsene ihre Ehepartner. Die Zwölfjährige soll die Restfamilie nach­holen. Doch die Deutschen haben den ­Familiennachzug massiv erschwert. Jetzt sitzen Xwedêda und der Rest der Familie auf halber Strecke in Anatolien fest, vertrieben aus der Heimat, weit weg vom Traumziel Niedersachsen.

Ihre Habe: ein Zelt, ein Kühlschrank, vier Matratzen, eine Plastikplane

Ganz früher lebte die jesidische Groß­familie in der nordwestirakischen Provinz Ninive. In dieser Gegend waren die Jesiden schon seit Jahrtausenden ansässig. Manche sagen, ihre Religion gehe auf die Lehren ­Zarathustras zurück, also bis in vorchristliche, sogar in vorisraelitische Zeit. Sie selbst sagen: Früher waren alle Kurden Jesiden, später sind manche zum Islam konvertiert. Sie selbst hätten die ­Religion und das Brauchtum der Kurden bewahrt.

Jesiden wurden im Nordirak mal ge­duldet, mal angefeindet. Im Juli 2014 kamen die radikalsunnitischen IS-Terroristen und mit ihnen feindselige Muslime aus den Dörfern entlang der syrischen Grenze. Sie töteten die Männer und versklavten die Frauen. Xwedêda floh mit seiner Familie und Zehntausenden anderer Jesiden ins Sindschar-Gebirge. Dort harr­ten sie wochenlang in Hitze und Trockenheit aus.

###autor###Später zogen sie weiter in ein nord­irakisches Flüchtlingslager, aber die sunnitischen Nachbarn von früher wollten die Jesiden nicht länger bei sich haben, sie galten ihnen als „Teufelsanbeter“. Nach zwei Wochen zogen Xwedêda und seine Fa­milie weiter – bis in die türkische Provinz Diyarbakır, wo die kurdische Lokalregierung auf dem früheren Erholungspark Fidanlik ein Flüchtlingslager für Jesiden errichtet hat. Im Nordirak leben heute kaum noch Jesiden. Die meisten ihrer Glaubensgenossen hat es nach Deutschland verschlagen, vor allem nach Niedersachsen.

Gegenüber von Xwedêda Haci hocken Şirin Hiseyn und seine 75-jährige Mutter Hazo Haci. Die Frauen hören reglos zu. Was sollen sie auch sagen. Es kam, wie es kam. Das Haus, der Garten, Xwedêdas Arbeit auf den Baustellen, alles weg. Ihre Habe jetzt: das Zelt einer Hilfsorgani­­sa­tion, ein Kühlschrank, vier Matratzen und die Plastikplane, die nachts notdürftig die Kälte der Pflastersteine abschirmt.

Erst als die Frage aufkommt, was die Großfamilie an Jashne Jimaiye unternehmen wird, dem großen jesidischen „Fest der Versammlung“ im Herbst, erst da kriecht Şirin Hiseyn aus ihrer Zeltecke heraus. Sie rückt an ihre Gesprächspartnerinnen heran, an die kurdischen Sozialarbeiterinnen Delal Özdemir und Ayşenur Tekagac Keya. Sie schaut sie flehentlich an. Şirin Hiseyn möchte nach Lalisch fahren, zur Grabstätte des Religionserneuerers Scheich Adi im Nordirak. Sie möchte mit der Familie den Höhepunkt des jesidischen Jahres erleben, das Fest der Versammlung zu Ehren von Melek Taus, dem Engel in Pfauengestalt, der sich gegen Gott auflehnte und so ein Beispiel für menschliche Autonomie und Freiheit gab. Ein Fest, bei dem sich früher alle jesidische Familien trafen, man alte Freundschaften pflegte, entfernte Verwandte wiedersah, neue Ehen einfädelte.

"Ungläubige" werden nicht als Flüchtlinge anerkannt

Ob Delal und Ayşenur dabei helfen können? Şirin Hiseyn bettelt und fleht: „Nur für eine Woche!“ Sie würde auch gleich wieder zurückkommen. – „Nein“, sagt Ayşenur. „Es geht nicht. Wenn du aus der Türkei ausreist, kannst du nicht wieder zurück. Dann musst du im Irak bleiben. Bleib lieber hier. Hier bist du sicher.“ Die jesidischen Flüchtlinge ­stecken in der Türkei fest. Sie können ­weder vor noch zurück.

In der Türkei sind sie recht- und mittellos. Der Staat unter der islamischen Regierungspartei AKP erkennt die angeblich „Ungläubigen“ nicht als Flüchtlinge an. Der türkische Minis­ter­präsident Recep Tayyip Erdogan hetze gegen Jesiden und nenne sie Terroristen, klagt die Föderation Jesidischer Vereine in Deutschland.

Die kurdische Lokalverwaltung von ­Diyarbakır kümmert sich mit eigenen Mitteln um die Jesiden, die hier gestrandet sind. Und die Diakonie Katastrophen­hilfe leitet viel EU-Geld ins ­jesidische Flüchtlingslager Fidanlik weiter und kommt für eine Krankenstation und ein Gemeinschaftszentrum im Camp auf.

Deutschland, ein Magnet für Jesiden

Aber auf Dauer ist das kein Leben, ­ohne richtiges Krankenhaus, ohne Schule für die Kinder, ohne Aussicht auf Jobs und ein eigenständiges Leben. Seit dem gescheiter­ten Militärputsch in der Türkei wird alles schlimmer. Die regierende AKP in Ankara entmachtet die kurdischen Bürgermeister, einen nach dem anderen. Damit droht der einzige Rückhalt zu verschwinden, den die Jesiden hier noch haben.  

In Deutschland ist die jesidische Glaubensgemeinschaft gut organisiert. Sie haben einen Zentralrat im niedersächsischen Oldenburg. Sie haben Vorstände, die in Deutschland zur Schule gegangen sind, die das Jesidentum modernisieren wollen, die sogenannte „Ehrenmorde“ unter rückständigen Glaubensgenossen lautstark verurteilen und das deutsche Grundgesetz in höchs­ten Tönen preisen. In Oldenburg, Celle, Hannover und Bielefeld entsteht ein neues Jesidentum. Deutschland ist ein Magnet für Jesiden in aller Welt.

Xwedêda Haci weiß nur eines: Er und seine Familie müssen so bald es geht aus Anatolien fortziehen. Manche Jesiden sind aus Verzweiflung in den Irak, in eine noch ungewissere Zukunft zurückgekehrt, nur damit irgendwas passiert. Aber Xwedêda hofft noch immer. Er hat sich vor einem halben Jahr bei den Vereinten Nationen für ein Umsiedlungsprogramm registrieren lassen. Noch haben sich die UN-Vertreter bei ihm nicht zurückgemeldet. Vermutlich würde man seine Familie nach Australien umsiedeln. Xwedêda würde einwilligen. Was dann aus der Restfamilie in Deutschland würde? „Meine erste Ehefrau und unsere Kinder blieben in Deutschland. Da sind sie sicher. Ich muss mir um sie keine Sorgen machen.“

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