Therapeutin Ursula Mukarker
Therapeutin Ursula Mukarker hat sechs Jahre in Berlin und Bonn gelebt. Jetzt hilft sie Menschen wie Hanan Al Jahfari
Jonas Opperskalski
Auf den Flügeln der Hoffnung
Die Menschen in den palästinensischen Autonomiegebieten verlieren den Kontakt zur Restwelt. Ihre Gesellschaft erstarrt. Über sexuelle Übergriffe in den Familien spricht man nicht, und die Medien verherrlichen militärische Gewalt. Ursula Mukarker will sich damit nicht abfinden. Sie hat ein Traumazentrum in Bethlehem gegründet
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
18.08.2016

Hanan Al Jahfari ist eine fröhliche Frau. Sie trägt trotz Sommerhitze einen grauen Mantel und ein blaues Kopftuch. Aber sie lacht so unbändig, dass man mitlachen muss. Während ihr Mann Shihada laut und lebhaft eine fromme Geschichte aus dem Koran erzählt, himmelt sie ihn lächelnd an. Als er sich für ein gemeinsames Foto steif aufs Sofa setzt, rüttelt sie an seinem Arm und sagt: „Umarme mich doch mal!“ Jetzt muss er auch lachen, berührt seine Frau schüchtern und läuft rot an.

Hanans Mann Shihada ist fest angestellt als Apotheker in einem staatlichen Krankenhaus. Im Bethlehemer Flüchtlingslager Deheishe, das seit 1949 besteht, bewohnen er, Hanan und ihr jüngster Sohn Mahmoud ein Haus. Sie hat drei Söhnen und einer Tochter das Leben geschenkt. Und Shihada hält zu seiner Frau Hanan, gerade jetzt, wo alles so schwierig ist.

„Unsere Tochter Ayat war lieb und niedlich“, sagt Hanan. „Ihr Vater hat sie so geliebt, mehr als unsere Söhne.“ In solchen Momenten bricht das Gespräch ab. Hanan schluckt und muss sich erst einmal fangen.

Seit sechs Jahren brechen private Katastrophen über ihre Familie herein, haben sie und ihr Mann mit einer Zerreißprobe nach der anderen zu kämpfen. Wenn man Hanans Geschichte hört, versteht man besser, warum Frauen wie sie jede Woche ins Bethlehemer Zentrum fahren zu „Wings of Hope for Trauma“, was so viel heißt wie: „Flügel der Hoffnung für Traumatisierte“, einer Hilfseinrichtung für Traumatisierte.

Missbrauch ist unnormal. Das wusste ihre Tochter offenbar nicht

Überhaupt versteht man besser, warum so viele Menschen in Palästina seelisch ­verwundet sind, traumatisiert. Was Thera­peutinnen wie Ursula Mukarker tun, damit ihre Klienten ein einigermaßen geregeltes Leben führen können. Und wie viel ein gemeinsamer Ausflug ins Schwimmbad des YMCA einer Frau wie Hanan bedeuten kann, wie wichtig ihr die Zumba- und Yogakurse bei Wings of Hope sind, die Gespräche mit den anderen Frauen und den Therapeutinnen.

Der Fotograf

###drp|QlVnIcKato9tSNzvgE0q90e_00148663|i-43||###Jonas Opperskalski, 1988 zur Welt gekommen. Sein Name begeisterte Shihada Al Jahfari. Er erzählte gleich die Geschichte vom Propheten Jona, wie sie in Koran und Bibel steht 

 
Hanan hat bei Wings of Hope neue Freundinnen gefunden, manche kannte sie schon vom Sehen aus Deheishe. Safa zum Beispiel. „Sie ist lustig, ich kann ihr viel erzählen“, sagt Hanan. „Wir treffen uns auch so mal, wenn ich mich nicht wohlfühle. Safa hat fünf Mädchen und zwei Jungen. Sie hat ihren Mann in der ers­ten Intifada verloren.“ Das war der erste palästinensische Aufstand gegen die israelische Besatzungsmacht von 1987 bis 1993.

Am schwersten tut sich Hanan damit, von ihrer Tochter Ayat zu erzählen. Das hat mit Hanans Bruder zu tun, der mit seinem Teil der Familie in Jericho lebt. Und da Hanan und ihr Mann entfernt verwandt sind, ist ihre Verwandtschaft auch seine – was Ayats traurige Geschichte nur komplizierter macht.

Ayat starb am 9. Oktober 2010. Da war sie 13 Jahre alt. „Wenn ein Kind nicht mehr isst, nachdem es sexuell missbraucht wurde, oder wenn es nicht mehr zur Schule gehen will, dann ist das eine natürliche Reaktion auf einen unnatürlichen Zustand,“ sagt Ursula Mukarker, die Leiterin von Wings of Hope in Bethlehem. „Der Missbrauch ist unnormal. Das wusste Ayat offenbar nicht. Sie konnte ihre Lage nicht verstehen.“

Sie zeigte ihren Bruder an. Er bekam lebenslänglich

Ihre Mutter Hanan hatte bemerkt, wie Ayat ihre Lebensfreude verlor und dass sie ihre Tage nicht mehr bekam, aber nicht die richtigen Schlüsse gezogen. Hanan macht sich jetzt schwere Vorwürfe, dass sie die Anzeichen falsch deutete und Ayat immer wieder nach Jericho zu ihrem Bruder schickte. „In unserer Gesellschaft warnt man vor Fremden“, sagt Ursula Mukarker, „aber man übersieht die Gefahr des Missbrauchs in den eigenen Familien.“ Weshalb sich ihr Traumazentrum auch immer darum bemüht, die Menschen über so ­etwas aufzuklären.

Ayat ging es zunehmend schlechter. Hanans Bruder, der sie missbraucht hatte, ging mit ihr zum Arzt. Er erfuhr: Ayat ist schwanger. Er kaufte Medikamente, aber der Fötus ging nicht ab. Er stellte Ayat in die Wanne, schlug sie. Ayat stürzte unglücklich und starb.

Die Großfamilie wollte die Sache intern regeln. Aber Hanan verlangte Gerechtigkeit. Sie zeigte ihren Bruder an. Ihr Mann unterstützte sie. Hanans Bruder bekam lebenslänglich. Die Großfamilie zerbrach. „Mein Mann hat viel ertragen“, sagt Hanan. „Er ist trotzdem bei mir geblieben. Andere hätten ihre Frau verlassen. Manche Nachbarn in Deheishe sagen ihm: Wie konntest du bei dieser Frau bleiben?“

Juristische Hilfe bekam Hanan in einem Beratungszentrum für Frauen. Mit ihrer Traumatisierung fühlte man sich dort überfordert. Man verwies Hanan an Ursula Mukarker und Wings of Hope. „Wir haben viel gesprochen“, sagt Hanan, „über meine Gedanken und über meine Wut. Zu Hause wäre ich verrückt geworden.“

Eine Spirale der Gewalt

Ursula Mukarker kann ihre Heimat Palästina mit Abstand betrachten. Sie beobachtet Dinge, die anderen entgehen. Ihre Mutter wuchs in Deutschland auf, ihr Vater war einige Jahre in Schweden. Sie selbst hat sechs Jahre in Berlin und Bonn gelebt, studiert und die Freiheit als Frau genossen. Dann kehrte sie – anders als die meisten Stipendiatinnen und Stipendiaten ihres Jahrgangs – nach Palästina zurück.

„Unsere Gesellschaft ist wie eingefroren unter der israelischen Besatzung. Sie wird immer konservativer. Wir verlieren den Anschluss an die Entwicklung in anderen Ländern. Wir sind hier zwar nicht in einem Gefängnis wie in Gaza. Wir können über Jordanien die Welt bereisen. Man fährt aber nicht einfach so nach Jordanien. Dafür ist die Fahrt zu aufwendig, auch wenn es gar nicht mal so weit weg ist. Aber die Wege sind sehr verschlungen.“

Wenn Ursula Mukarker die Arbeit ihres Zentrums vorstellt und die besonderen Probleme, mit denen sie zu tun hat, rattert sie los. Oft hat sie Vorträge gehalten, ihre Arbeit vorgestellt, um Spenden geworben.

„Die Männer kommen nach langen Jahren aus den israelischen Gefängnissen. Dort haben sie Gewalt erlebt. Nun schlagen sie ihre Frauen und Kinder. Die Frauen sind frustriert, sie schlagen auch. Ihre Kinder prügeln sich mit anderen Kindern, andere quälen Tiere. Es ist eine Spirale der Gewalt. Und wir haben keine Gesetze, die Frauen und Kinder davor schützen.“

"Erinnerungen sind ein Trigger für das Trauma“

Am 24. Februar 2015 wurde Hanans Zweitältester, Jihad, erschossen. Israelische Soldaten drangen in der Nacht ins Flüchtlingslager ein, um jemanden zu verhaften. Die Jugendlichen wollten sie aufhalten. Sie warfen Steine, auch Jihad. Die Israelis zogen sich zurück. Erst gaben sie Warnschüsse ab. Als die Lage eskalierte, schossen sie scharf. 

„Wir schliefen“, sagt Hanan. „Plötzlich hörten wir Schallbomben. Jihad lief auf unser Dach, um von da aus zu werfen.“ Hanan zeigt auf ein Geschäft auf der gegen­überliegenden Seite der Hebron-­Straße. „Der Schuss kam von dort. Die Kugel ging diagonal von der Hüfte zur Schulter durch seinen Oberkörper. Als wir Jihad fanden, war er tot.“

Wenn Hanan nach Hause kommt, sieht sie zuerst die übergroßen Grafitiporträts von vier Jungen, die durch israelische Gewehrkugeln getötet wurden. Eines von ihnen zeigt ihren Sohn Jihad. Im Hauseingang prangt der Schriftzug: „Wir werden dich nicht vergessen“, daneben ein Plakat mit Jihad. Fotos am Treppenaufgang, im Wohnzimmer gleich vierfach auf einer Montage mit der goldenen Kuppel des Jerusalemer Felsendoms im Hintergrund.

„Erinnerungen sind ein Trigger für das Trauma“, sagt Ursula Mukarker, „andererseits auch ein Zeichen gesellschaftlicher Anerkennung, was die Trauer erträglicher macht.“ Im Juni rief Jihads Ausbildungsbetrieb an, die evangelisch-lutherische Schule Talitha Kumi, wo er eine Kochlehre gemacht hat. „Sie haben mich zur Abschlussfeier seines Jahrgangs eingeladen“, erzählt Hanan. „Da war ein Stuhl mit seinem Bild und seinem Zeugnis. Er hätte es an dem Tag bekommen. Ich sah die Absolventen. Dann sah ich ihn an seinem Platz, wie er lachte.“

"Menschen, die andere töten, werden als Helden gefeiert"

Unter Ursula Mukarkers Kollegen finden sich ein Psychiater, eine Psychologin und drei Sozialarbeiterinnen. Fachleute aus Deutschland kommen regelmäßig zu Schulungen. Ihr Zentrum hat einen großen Seminarraum, eine Kamera für supervidierte Gespräche, Therapie­räume mit Spielzeug: Menschenfiguren, Bäume, Plastiktiere, Stofftiere, Kochgeschirr, ­Ritter, Autos, Türme, Straßenblockaden, Soldaten, Gewehre, Panzer.  

Auch Kinder kommen ins Traumazentrum. Manche sind Bettnässer. Andere sind einfach nur schwierig im Umgang und werden ausgegrenzt. „Hier spielen sie selbstvergessen“, sagt Ursula Mukarker. „Sie stellen in kleinen Sandkisten Alltagsszenen nach. Ihre Traumata haben oft mit Kriegsszenen zu tun. Während des Gaza­kriegs hockten die Menschen viel vorm Fernseher und sahen Nachrichten.“

Überm Spielzeugregal hängt das Bild einer Jugendlichen: Kinder unter einem Regenbogen, im Hintergrund ein Herbstwald und eine Palästinafahne. Ursula Mukarker zieht eine Holzkiste mit Muscheln und Fischen hervor. „Es gibt schöne Dinge wie das Meer, das von hier aus nicht weit ist, aber leider unerreichbar. Man darf die Träume nicht verlieren.“

Einer der Traumatherapeuten und Trainer aus Deutschland hat einmal gesagt: „Gewalt macht kalt und krank.“ Ursula Mukarker hat sich diesen Satz auf dem Blatt mit den Textbausteinen notiert, mit denen sie ihre Arbeit erklärt. Warum ihr der Satz wichtig ist? „Wir müssen den Kindern Empathie beibringen“, antwortet sie. Und sie sagt: „Menschen, die andere töten, werden als Helden gefeiert. Das ist ein Problem auf beiden Seiten. Und unsere Medien heizen die dramatische Situation an. Sie zeigen Leichen, geschlagene Frauen, eingestürzte Häuser, und sie untermalen das mit dramatischer Musik.“

Die Augen zu und wieder auf. Schon ist ein Jahr vorbei

Walid ist Hanans Ältester. Er ist 22 Jahre alt und in einem israelischen Gefängnis. Walid soll eine Rohrbombe gebaut haben. Ein Jahr war er in Untersuchungshaft, am 3. Juli 2016 das Urteil: sechs Jahre Haft. „Als mein Jüngster, Mahmout, das Urteil hörte, schrie er, weil er jetzt gar keine Ge­schwis­ter mehr hat“, sagt Hanan.

Der Anwalt machte einen Deal mit dem Militärrichter. Gegen 5000 Schekel (umgerechnet 1170 Euro), bekommt er nur zwei Jahre und neun Monate. Die Unter­suchungshaft wird angerechnet.

###autor###„Ich habe geweint. Mein Mann hat mich umarmt und gesagt: Mach die Augen zu und wieder auf, und dann ist die Zeit vorbei. Ich habe ihn angeschaut. Siehst du, hat er gesagt, ein Jahr ist schon vorbei. Jetzt sind es nur noch zwei.“ Wer ihrem Mann hilft? „Gott“, sagt sie. „Er betet viel, geht oft zur Moschee. Und seine nächsten Verwandten, die Brüder und Schwes­tern, unterstützen ihn.“

Ursula Mukarker und ihre Kolleginnen stemmen sich gegen die sich ausbreitende Gewalt. Sie beraten, geben Seminare, klären auf, therapieren, lassen die Kinder spielen. „Unsere Kinder brauchen Visionen, Träume, was sie als Erwachsene leisten wollen. Ich will, dass sie sagen: Wenn ich erwachsen bin, will ich dies und das bauen. Oder: Dann will ich Menschen heilen. Oder: Ich will etwas erforschen.“

"Ich will mich nicht an die Mauer gewöhnen"

Die Hebron-Straße endet in Richtung Jerusalem an einer neun Meter hohen Mauer. Sie wurde gebaut, um Terroristen von Israel fernzuhalten. Palästinenser mit Arbeitserlaubnis passieren jeden Morgen die Mauer einzeln durch eine Sicherheitsschleuse mit Drehtüren und vergitterten Gängen. Seit die Mauer steht, hat kein Palästinenser mehr in Israel ein Selbstmord­attentat verübt – obwohl es immer noch ein Leichtes ist, über Umwege unbemerkt nach Israel zu gelangen. Die Mauer steht größtenteils auf palästinensischem Land und ist längst noch nicht fertig gebaut.

Ursula Mukarker weiß, wie verfahren die Situation ist. Sie sagt: „Alle wollen das Land für sich allein, kaum einer ist zu Kompromissen bereit.“ Sie sagt auch: „Wir Christen leisten Widerstand, indem wir hierbleiben. Sonst kommen die Pilger hierher und erleben die Geburtsstadt Jesu als Museum.“

Natürlich müsse man Traumatisierten helfen, schrieb der Leiter der Hilfsorganisation Medico International in der Juli­ausgabe von chrismon plus. Aber manchmal habe er den Eindruck, Menschen sollten gegen die Katastrophe resilient gemacht werden, statt die Ursachen der Katastrophen zu bekämpfen.

„Wir haben keinen Bezug zu den ­Israelis“, klagt Ursula Mukarker. „Sie kennen uns als billige Arbeiter. Wir kennen sie als Soldaten. – Ich will nicht resilient sein ­gegen diesen Irrsin. Ich will mich nicht an die Mauer gewöhnen. Sie soll wegfallen.“

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Rakete aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.