Frau Z., Z wie Zucker, chrismon plus 5/2016
Mara von Kummer
Z wie Zucker
Sie war es leid, sich die Treppe hochzuschleppen. Frau Z. kämpfte sich aus der Einsamkeit zurück ins normale Leben und halbierte in 16 Monaten ihr Gewicht. Die Geschichte einer Besinnung.
02.05.2016

Von den Hautlappen am Bauch schreibt Frau Z. jedem der ­Männer, die sie im Netz kennenlernt. „Die Problemzonen an mir sind problematischer als diejenigen vieler anderer Frauen“, sagt sie. „Alle meine Dates wissen das. Entweder kann ein Mann damit umgehen, oder er ist nicht der Richtige für mich.“

Vierzehn einsame Jahre hat Frau Z. hinter sich. Vierzehn Jahre lang keine Umarmung, keinen Kuss, nicht eine einzige innige Berührung. „Aber es war in Ordnung so“, sagt sie. „Wie auch hätte Zärtlichkeit gehen sollen – ich hatte doch kein Selbstbewusstsein.“

Frau Z. lebt in einem Mietshaus in Berlin-­Charlottenburg, in einer Wohnung mit zwei Zimmern. Einundvierzig Jahre alt ist sie jetzt. Über zehn Jahre hinweg hat sie die Wohnung so gut wie nicht verlassen. Einzig zum Einkaufen ist sie raus. Drei Treppen hinunter und die drei Treppen wieder hinauf, dazwischen die paar Minuten Weg bis hin zum Supermarkt und wieder zurück.

Sie konnte kaum noch laufen, sie ­hatte Wasser in den Fußgelenken. Dazu an ­beiden Füßen einen doppelten Fersensporn, zwei knöcherne ­Buckel jeweils unten am Fersenbein. Sie erhielt ständig Kortisonspritzen in die Fußballen. Sie ­spürte ihr Übergewicht am ­Rücken, am Herzen, an den Knien, beim Atmen.

„Eine Art von Schnapp­atmung“, sagt Frau Z. „Man fragt sich nur noch, ­schaffe ich die Strecke bis dort, wo ich hinwill? Wer würde mich nachher zurückbringen? Wenn niemand, wie würde ich bis nach Hause kommen? Würde da noch was fah­ren? Man zieht sich zurück, man vereinsamt, man vegetiert dahin. An überhaupt nichts Freude. Nicht weil man nicht will, sondern weil man nicht kann.“

"Der Kühlschrank war mein bester Freund. Er war immer für mich da"

Mit hundert Kilogramm bei ihrer Körpergröße von einszweiundsiebzig hatte sie sich noch wohlgefühlt. Sie dachte, mehr als das würde es nicht werden, jedenfalls nicht mehr als hundertzehn. Sie dachte, sie könnte es kontrollieren. „Man merkt nicht, wie man zunimmt“, sagt sie. „Fünf oder zehn mehr sind da egal, die merkt man gar nicht bei den vielen anderen Kilos.“

Bei der Trennung von ihrem Freund 2001 war Frau Z. gerade bei hundertelf Kilogramm angelangt. Bis 2011 ist ihr ­Gewicht dann bis hoch auf hundertsechzig angestiegen. In den zehn Jahren ist es mal rauf-, mal runtergegangen, sagt sie, aber doch immer mehr rauf. Nie wieder einen Mann, hat sich Frau Z. gesagt, nachdem sie ihren Freund nach wiederholtem Streit endlich aus der Wohnung rausbekommen hatte.

„Schon als ich Kind war, war der Kühlschrank mein bester Freund. Er kritisierte mich nicht, er schimpfte nicht mit mir, er war mir gegenüber niemals bösartig, er hat mich auch nie ausgefragt. Er war ­immer für mich da. Ganz anders als ­meine Mutter.“

Mit acht fing Frau Z. an, in sich hineinzuschlingen, was sie im Kühlschrank fand. Vor allem Käse und Wurstaufschnitt. Mit zehn war sie einen Meter zweiundfünfzig groß und achtzig Kilogramm schwer. Vielleicht auch mehr als das, sagt sie, und die Figur so breit wie hoch. In der Schule hielten die anderen Schüler sie auf Abstand, weil sie mit ihren Leistungen nicht hinterherkam. Frau Z. sagt, dass sie auf sich allein gestellt war. Dafür hatte sie die euphorischen Momente, die ihr das Essen schenkte.

Die Tochter als Ankerpunkt

Ihre Mutter trank Schultheiss- und Kindl-Bier. Hatte sie ihre Dosis erreicht, war sie zu nichts mehr fähig. Manchmal holte sie die Tochter frühmorgens aus dem Bett, damit sie ihr Bier vom Kiosk heran­schaffte. Im Schulunterricht war das ­Mädchen dann müde und unaufmerksam.
Ihre beiden Schwestern sind aus der ers­ten Ehe der Mutter. Über ihren leiblichen Vater kann sie nichts sagen, er hatte die Familie nach ihrer Geburt verlassen. Es folgte Ehemann Nummer drei. „Mein Stiefvater war gut zu mir“, sagt Frau Z., „aber wenn er getrunken hatte, prügelte er sich mit meiner Mutter. Auch wir Mädchen bekamen oft eine Tracht mit ab.“

Im Alter von zwölf Jahren kam sie in ein Heim in Berlin-Steglitz. Wochen ­später holte die Mutter sie wieder zu sich. Nicht lange, und sie kehrte nach Steglitz ins Heim zurück. Von dort wechselte sie zu Pflegeeltern nach Norddeutschland. ­Dreißig Kilogramm hat sie bei der Pflegefamilie abgenommen. „Weil ich ich sein durfte, weil die Kinderseele zur Ruhe gekommen war. Den Kühlschrank brauchte ich nicht mehr.“

Bald setzte die Pubertät ein. „Du dickes Ding“, sagte ihr Pflegevater immer öfter zu ihr. „Du kleines dickes, dummes Ding“, weil sie ihm andauernd widersprach. Nach zwei Jahren gab die Pflegefamilie sie ans Jugendamt zurück. Mit sechzehn bekam sie ihre Tochter. Während Schwangerschaft und Stillzeit ging das Gewicht rauf und runter, bis zu vierzig Kilogramm. Als sie 1995 nach Berlin zog, wog sie neunzig Kilogramm.

Frau Z. sagt, dass sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, als dass sie sich um das Kind hätte kümmern können. Die Tagesmutter übernahm es als Pflegekind. Frau Z. hatte eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin angefangen, die Lehre aber abgebrochen. Seither erhält sie Unter­stützung vom Arbeitsamt.

Zwei Tafeln Schokolade, dann Chips, und sie fühlte sich lebendig

Ohne Tochter entglitt ihr das Leben. ­Cola beruhigte ihr Gewissen. Manchmal anderthalb Liter am Tag, manchmal dreieinhalb. „Wer hat mich denn getröstet?“, sagt sie. „Keiner. Aber Cola und Kühlschrank.“ Und sie besorgte sich Schokolade und Gummibärchen. Zwei Tafeln und zwei Tüten davon hatte sie innerhalb von dreißig Minuten weg, eine Packung Chips dazu. Sie wollte den Wechsel von süß, sauer und salzig-deftig, sie wollte die Gegensätze auf der Zunge, um sich lebendig zu fühlen.

„Ich habe auch Steak und Gemüse gehabt. Auch mal bloß eine Bulette, manchmal aber drei gleichzeitig. Da waren es die Beilagen, die durchschlugen, Gratin oder Kartoffeln für zwei, Gemüse ebenfalls für zwei. Und gleich wieder Chips hinterher und dreimal Eiscreme. ­Die Eiscreme auch zwischendurch, ein halbes Kilogramm davon auf einmal. Dann zum Bäcker und die vier Stück Kuchen sofort alle aufgegessen.“

Das ganze Verhältnis stimmte nicht mehr. „Je mehr ich gegessen hatte, desto weniger Befriedigung empfand ich hinterher. Zuletzt ging es nur noch darum, den Kiefer in Bewegung zu halten, er musste etwas zu tun haben. Hauptsache, es ­mahlte, Hauptsache, es kaute. Ich hatte Angst davor, andernfalls zu verhungern. Doch das Hochgefühl war oberflächlich. Tief war die Scham darüber, mich wieder dermaßen vollgestopft zu haben. Aus Frust darüber und aus Langeweile und deshalb, weil man so ist, wie man ist, anders als alle anderen, habe ich mit dem Essen weiter­gemacht.“

Dann die Versuche, weniger zu essen. Manchmal in zwei Tagen nur zwei Brötchen. Die angehäuften Kilos gingen dennoch nicht weg. Es folgten Versuche mit Diäten, die teuer waren und nichts nützten.

Der Magen – eine Riesenbeule

„Süßes hatte mich so aufgetrieben“, sagt Frau Z., „nicht Fett oder Fleisch. Dass S­üßes eine Sucht wie die nach Alkohol, ­Tabak oder Kokain ist – warum habe ich das nicht begriffen? Als Schicksal habe ich es mir eingeredet, derartig dick zu sein. Heute nehme ich die Verantwortung dafür an. Niemand anderes als ich selbst hatte mich genötigt, Cola und die anderen Sachen alle einzukaufen.“

Überdruss, Einsamkeit und der Zustand ihres Körpers brachten sie vor fünf Jahren dahin, eine Adipositaspraxis aufzusuchen, um sich am Magen operieren zu lassen. „Ich wollte gesund alt werden“, sagt sie. „Ich wollte nicht so enden, eines Tages vielleicht mittels eines Krans durch einen Mauerdurchbruch hindurch aus der Wohnung gehievt zu werden.“ Statt Cola trank Frau Z. gesüßte Sojamilch. Die Entzugs­erscheinungen waren Händezittern und Panikattacken. Die Genugtuung über den eingesparten Zucker überwog.

Dass ihr Magen eine Riesenbeule sei, teilte ihr die Ärztin in der Adipositas­praxis mit. Nicht Schlauchmagen oder Magenband, nur der Magenbypass käme bei dem Befund in Betracht. Ein Vormagen würde operativ vom Magen abgetrennt und über eine Kanüle direkt mit einer Dünn­darmschlinge verbunden. Dieser Vormagen werde der Aufnahme und dem Ver­werten von Essen Grenzen setzen. Der übrige ­Magen verbliebe funktionslos im Bauch.

Nach weiteren Gesprächen, nach Sport und psychologischem Gutachten und nach dem Body-Mass-Index-Check, der bei Frau Z.­ den Wert von 46 ergeben hatte, ­reichte die Ärztin bei der Krankenkasse den ­Antrag auf Übernahme der Kosten für die Operation im Frühjahr 2013 ein. Bis dahin ging Frau Z. alle vier Wochen zu Gruppenterminen in der Adipositaspraxis, um sich die Erfahrungen von Leuten anzuhören, die bereits am Magen operiert waren.

Das Essen musste sie neu lernen

Eiweißshakes waren drei Wochen lang vor der Operation Frau Z.’s einzige Nahrung. „Ein ewiges Hungergefühl“, sagt sie. „Die Kur war deswegen vonnöten, um die Organe zu entfetten, um generell den ­Organismus zu entschlacken.“ Der Eingriff dauerte zwei Stunden. Am dritten Tag danach konnte Frau Z. wieder nach Hause. Nur essen musste sie neu erlernen. Zuerst flüssige Kost, dann pürierte und schließlich normale Mahlzeiten. Es war wie bei einem Baby, sagt sie.

Ein bestimmtes Gewicht zu erreichen, hat sie nicht vor. Mit jedem Kilogramm, das verschwindet, ist sie zufrieden.
Mit Sport hat Frau Z. ein halbes Jahr nach der Operation begonnen. Schön langsam, damit Herz und Atmung die Anstrengung mitmachten. Zehn Minuten täglich Rad fahren auf dem Hometrainer, nach einer Woche auf zwanzig Minuten gesteigert. Seit einem Jahr nun sitzt sie jeden Tag eine halbe Stunde lang auf dem Gerät.

„Alles das mache ich jetzt, was ich früher nicht machen konnte“, sagt sie. „Jetzt kriege ich Luft, jetzt wirbele ich umher. Fitnesstraining, Zumbafitness, Aerobic mit lateinamerikanischer Musik. Ich gehe zum Afrobeat in eine Diskothek.“

Ein bestimmtes Gewicht zu erreichen, hat sie nicht vor. Mit jedem Kilogramm, das verschwindet, ist sie zufrieden, auch mit achtzig Kilogramm an Körpergewicht statt wie jetzt dreiundsiebzig. Von 64 auf 40 ist die Konfektionsgröße zurückgegangen, das Körbchen von F auf B.

Neues Selbstbewusstsein und schon vier Dates

Es berührt sie nicht, wenn sie anderen beim Essen zusieht. Nur wenn jemand in ihrer Gegenwart Cola trinkt, hört und sieht sie nicht hin. Das Kohlensäuregeräusch und die Farbe der Flüssigkeit stoßen sie ab. Überhaupt drückt sie sich nicht an den Regalreihen vorbei, keine Gier mehr. Sie kauft gezielt und mit Bedacht ein.

Auf Faseriges im Essen hat sie zu achten, weil ihr das den Bypass verstopfen könnte. Keinen Spargel, keine Mangos, keine Pilze. Orangen nur filetiert, von Mandarinen nur den Saft. Keine Spa­ghetti, weil sich die zum Dünndarmverschluss ineinander verschlingen könnten.
Vor allem nichts mit Kohlensäure trinken, das würde ihr den Vormagen weiten. Ansonsten darf sie alles essen und trinken, auch Schokolade und Gummibärchen, wenn sie das denn wollte. Wegen des V­ormagens würde sie ohnehin nicht viel davon schaffen.

Einmal im Vierteljahr spricht Frau Z. mit Operierten in der Adipositas­praxis über Essens- und Trinkmengen. Alle Teilnehmer sind sich einig, dass die Entscheidung für die Operation richtig war. „Das Verkleinern des Magens hat mich ins Leben zurückgebracht“, sagt Frau Z. „Ich fühle die Sättigung, die ich zum Ab­nehmen brauche. Ich genieße es zu essen.“

Die Hautlappen am Bauch sollen noch weg. „Von allein bilden sie sich nicht zurück“, sagt sie, „man muss sie wegoperieren.“ Innerhalb von sechzehn Monaten hat sie über achtzig Kilogramm verloren. Noch einmal viereinhalb Kilogramm hätte sie durch diese Korrektur runter.

Vom Geld, das Frau Z. übrig bleibt, weil sie weniger isst, kauft sie sich Dessous und körperbetonte Kleidung. Sie will ­ihre Weiblichkeit hervorheben, ihr neues Selbstbewusstsein, ihre Anziehungskraft. Dates mit vier Männern hat sie in den vergangenen zwei Jahren schon gehabt.

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