Annette Pehnt: Anuka
Urlaub soll schön sein, der Höhepunkt des Jahres. Aber dann verschwören sich die minderjährigen Hotelangestellten...
Jutta Bauer, Hanser Verlag
Aufstand der Kleinen
Ein Clubhotel mit Kinderarbeitern und mit Kindern, die sich langweilen. Was da wohl passiert? Die Schriftstellerin Annette Pehnt findet: Wir brauchen wieder mehr politische Kinderbücher
29.04.2016

chrismon: Das Mädchen Anuka arbeitet in einem Clubhotel. Sie ist „Schönmacherin“, schreiben Sie. Warum?

Annette Pehnt: Anuka muss im Palmenclub den ganzen Tag fegen, aufräumen, ­für die Gäste springen und dabei vor allem immer lächeln. Deshalb sollte das Buch auch zuerst „Die Schönmacherin“ heißen. Kinderarbeit ist aber nicht schön. Das ist ein Widerspruch.

Sie lassen offen, wo genau der Palmenclub liegt.

Es sollte ein Land sein, in dem es andere Verhältnisse gibt, aber so genau sollte es nicht zugeordnet sein. Es ging mir um grundsätzliche Strukturen und um die Kindercharaktere, nicht um einen aktuellen faktischen Hintergrund. Es könnte überall in einem südlichen Land sein. Vielleicht in Nordafrika. Es bleibt auch offen, wie alt Anuka und die anderen Kinder sind.

Waren Sie einmal in so einem Clubhotel?

Ja, einmal. Als Jugendliche. Das hat mich schon beeindruckt, weil es der reine Luxus war. Ich war aber bereits helle genug zu merken, dass es da ein Leben hinter den Fassaden gibt. Die Menschen, die da gearbeitet haben, hatten dunkle Haut. Und von einigen dunkelhäutigen Kindern war mir nicht ganz klar, was sie dort taten. – Das hatte ich aber längst wieder vergessen.

Was war dann der Auslöser für „Anuka“?

Ein sehr schöner Urlaub mit meinem Mann und meinen Kindern. Nicht in einem Clubhotel, aber es ging uns rundherum gut. Ich gehe im Erzählen immer konkreten Fragen nach. Und da habe ich mich wieder einmal gefragt, wie ich davon erzählen könnte, dass der Wohlstand und das ganze Wohlbefinden, das wir feiern und das wir uns leisten können, seine Bedingungen und seine Schattenseite hat.

Sie erzählen aus zwei Perspektiven.

Ja, zwar nicht direkt aus der Perspektive des Mädchens, das in diesem Club arbeitet, sondern aus der einer dritten Person, die nah bei Anuka ist. Ich habe erst versucht, die ganze Geschichte aus Anukas Sicht zu erzählen, aber das kam mir dann anmaßend vor. Ich maße mir ja schon an, ihr Leben zu erfinden, aber die Ich-Perspektive schien mir einfach zu viel. Ich wollte aber auch zeigen, wie es sich von der anderen Seite darstellt, der des Jungen.

So kam der westliche Junge rein?

Ja, die andere Perspektive ist die des Jungen, der mit seinen Eltern aus der Komfortzone der westlichen Welt zu Besuch kommt und ahnungslos seinen Urlaub genießt. Und dieser Philip erlebt Verhältnisse, die er sich vorher nicht so richtig vorstellen konnte – mit all den Fragen, die daraus entstehen.

"Jedes sechste Kind auf der Welt muss arbeiten. Untragbar, weil sie nicht in die Schule gehen"

Anuka denkt, Philip langweile sich im ­Palmenclub. Sie möchte ihm einen Besen in die Hand drücken, damit er einmal ­„etwas Richtiges, Echtes“ tut. Ist das nicht ein Klischee?

Nein, für so ein Kind ist es doch unvorstellbar, was dieser Urlaub, diese Zeit des Nichtstuns, genau bedeuten soll. Anuka hat ja manchmal Fantasien, was sie tun würde, wenn sie das Geld und die Zeit hätte, sich so eine Auszeit zu gönnen, aber das gelingt ihr kaum. Denn was sie kennt, ist ein Arbeitsleben, und zwar durchlaufend. Und deshalb finde ich es plausibel, dass sie den Jungen aktivieren möchte.

Und er hat sich auf diesen Urlaub gefreut.

Ja, er ist für ihn der Höhepunkt des Jahres. Aber er langweilt sich trotzdem, zumal er nicht sportlich ist und nicht mit den an­deren Fußball kicken will. Es ist natürlich eine sehr angenehme und luxuriöse Lange­weile, aber dennoch ziemlich öde. Auf der anderen Seite ist Langeweile etwas, was sich ein Kind wie Anuka nicht vorstellen kann. Langeweile hat man nur, wenn man sie sich auch leisten kann.

Philip versucht, Anuka sein Handy zu schenken. Das funktioniert aber nicht.

Das ist die Geste des Gutgemeinten. Philip kann aber nicht mitbedenken, wie es auf der anderen Seite aussieht. Erstens ist ­dieses Geschenk eine Demütigung – wobei das für das Mädchen noch nicht einmal so tragisch ist. Sie sind ja beide Kinder. Und zweitens sind Geschenke wie dieses deplatziert: Was soll ein Kind ohne Geld und ohne Sim-Karte mit einem Handy? Außerdem hat das Clubhotel wahrscheinlich Spielregeln, die der Junge nicht kennt. Zum Beispiel: Ihr Mädchen dürft von den Gästen keine Geschenke annehmen und so weiter. Er will ja nur großzügig sein, will helfen, indem er sein neues Handy abgibt. Seine Eltern sind auch nett und haben ihm beigebracht, dass andere Kinder nicht so viel haben wie er. Und dass er teilen soll.

Und das geht schief.

Alle für Anuka

###drp|6_l_rmqQCgEKSA83_mWNxANT00144154|i-45|Foto: PR|### Annette Pehnt: Alle für Anuka. Carl Hanser Verlag 2016, 144 Seiten, 12,90 Euro

Das klingt so einfach, ist aber kompliziert. Und so empfinde ich es auch in Wirklichkeit. Was sich wie eine einfache moralische Entscheidung anhört – „ich teile, was ich habe“ –, ist manchmal eben nicht so einfach, weil es zum Beispiel zu kulturellen Missverständnissen führen kann. Philip schämt sich dann auch, weil er merkt, dass sein Geschenk überhaupt nicht angemessen ist. Auch wenn er nicht so genau weiß, warum.

In Ihrer Geschichte müssen viele Kinder arbeiten: im Hotel und sogar im Steinbruch. Worauf haben Sie bei der Darstellung geachtet?

Ich habe versucht, das nicht zu dramatisieren. Die Schule meiner Kinder hat eine Partnerschaft mit einer Schule in Indien. Vor einiger Zeit sammelten sie Geld, um Kinder aus Teppichsklaverei und aus einem Steinbruch zu befreien und um sie wieder zu beschulen. Das lief über Misereor und ist zum Glück auch gelungen. Dabei ist mir aber auch klargeworden, dass es für viele Familien ziemlich kompliziert wird, wenn die Kinder nicht arbeiten. Obwohl es ausbeuterische Verhältnisse sind: Jedes sechste Kind auf der Welt muss arbeiten. Aus unserer Perspektive untragbar, weil sie nicht in die Schule gehen. Aus ihrer Perspektive oft nötig.

Wie ist es für Anuka?

Anuka hat keine Eltern. Sie und ihre Brüder müssen Geld verdienen und haben Arbeit gefunden. Ich wollte sie also nicht aus unserer Perspektive verurteilen. Ich wollte das Mädchen auch nicht als bemitleidenswert darstellen, weil es arbeiten muss.

"Der Weg aus der Einsamkeit: aktiv werden"

Anuka arbeitet sogar gern im Hotel. Zusammen mit ihren beiden Brüdern und ­einer kleinen Katze bildet sie eine Familie. Zeichnen Sie da nicht etwas viel Idylle?

Das ist ja eigentlich eine ganz fragile Konstruktion. Sie funktioniert nur, solange es allen gutgeht. Aber dann passiert die Katastrophe: Anukas Bruder wird schwer krank. Er muss versorgt werden. Aber ­niemand kann ihn versorgen, weil alle Kinder ihre Arbeit leisten müssen. Anuka muss eine Lösung finden.

Was gibt dem eher stillen, angepassten Mädchen plötzlich Mut?

Das bleibt offen. Der Moment, als sie beschließt, einen kleinen Kinderaufstand im Hotel anzuzetteln, wird nicht erzählt. Mir war wichtig, dass sie keine tapfere Heldin ist, die von Anfang an auf Widerstand gebürstet ist, sondern ein ganz normales Mädchen. Sie wird aber gezwungen, etwas für ihren Bruder und die anderen Kinder zu tun, weil sie nicht untergehen will. Mut macht ihr wohl auch, dass auf einmal eine Freundschaft unter den Kindern entsteht, die in diesen Arbeitsverhältnissen eigentlich gar nicht dazu kommen, sich zu solidarisieren. Aber im Krisenmoment ist da plötzlich ein Bündnis. Anuka ist nicht mehr allein.

Und das reicht?

Ja, das scheint ihr genug Mut zu geben, alle Kinder im Hotel, auch Philip und die Gastkinder, dazu zu bringen, sich in die Hotelhalle zu stellen und erst einmal nicht mehr zu lächeln, nicht mehr zu arbeiten oder ­zu spielen. Das Utopische an der Geschichte ist, dass die Wellen über die sozialen Grenzen hinausschlagen. Es ist ein Hoffnungsbuch, das sich nicht strikt realistisch löst. Die Wendung ins Rebellische ist schon erstaunlich. Die Kinder wachsen über sich hinaus. Vielleicht, weil sie etwas tun, was größer ist als sie.

Welche Rolle kommt Philip zu?

Er hat im Grunde Glück, dass er da hineingerät. Er ist ja ein träges Kind, ein bisschen Außenseiter, nicht so sportlich. Und dann findet er seinen Platz und eine Aufgabe. Als alle Erwachsenen die schweigenden Kinder in der Halle erstaunt ansehen, erklärt er mit lauter Stimme, dass Anukas Bruder krank geworden ist und dass sie und zwei ihrer Freunde ihre Arbeit ver­lieren sollen, weil sie ihn versorgt haben. Philip wird Anukas Sprachrohr und kommt so auch zu einer eigenen Stimme. Dieser träge Junge traut sich auf einmal etwas, das er nie für möglich gehalten hätte. Er merkt, dass er für etwas einstehen und ­sogar etwas für andere bewirken kann.

Und er ist plötzlich nicht mehr einsam.

Weil er aktiv geworden ist. Das ist überhaupt der Weg aus der Einsamkeit: mit anderen etwas zusammen machen. Ob das nun Fußballspielen ist – aber da will er nicht mitmachen – oder eben das En­gagement für diese arbeitenden Kinder. Da ist man zusammen an etwas Drittem dran. Es geht nicht nur um einen selbst und das eigene Umfeld. So findet Philip Freunde unter den Kindern, und der langweilige Luxusurlaub verwandelt sich plötzlich in etwas sehr Berührendes für ihn.

"Der Aufstand der Kinder ist keine letztgültige Antwort auf Anukas Problem"

Die Solidarität mit den anderen Kindern scheint ihm am Schluss fast wichtiger als das Ergebnis.

Weil er merkt, dass man zusammen etwas verändern kann. Und was das Ergebnis betrifft: Es kann nicht sein, dass auf einmal alles gut ist. Die Kinder verändern die Strukturen ja nicht. Eigentlich ist es verrückt: Anuka und ihre beiden Freunde wollen wieder eingestellt werden, aber es bleibt Kinderarbeit. Die ungerechten Verhältnisse bleiben bestehen. Und das, was die Kinder erreicht haben, steht auf wackligen Füßen.

Das erkennt Philip ja auch.

Ja, er fragt sich: Was passiert, wenn die engagierten Eltern wieder wegfahren? Ist die Veränderung nur Fassade? Was wird die blonde Animierchefin tun, die den Mädchen beigebracht hat, unter allen Umständen immer zu lächeln? Deshalb wollte ich auch, dass die Kinder die Eltern ins Boot holen. Ich glaube, dass die Zeiten der reinen Kinderrevolution à la Erich Kästner vorbei sind.

Welche Rolle spielen die Erwachsenen?

Am Anfang habe ich sie viel finsterer dargestellt als in der fertigen, veröffentlichen Fassung. Die Erwachsenen waren zunächst die Bösen und die Kinder die Guten. Aber das habe ich dann immer nuanciert. Ein Koch steckt Anuka jeden Abend Essen zu. Ein gütiger Doktor hilft den Kindern auch noch nach einem anstrengenden Tag. ­Philips Mutter äußert, dass Kinder nicht arbeiten, sondern in die Schule gehen sollten. Aber es ist klar, dass sie jetzt Urlaub hat, was ja auch legitim ist. Immerhin: Sie und andere Eltern hören den Kindern zu und unterstützen sie. Es kann einfach nicht sein, dass gut und böse so klar zugeteilt sind.

Warum erzählen Sie ausgerechnet jetzt eine Geschichte über Solidarität?

Das tue ich eigentlich immer wieder. Sowohl in meinen Büchern für Erwachsene als auch in meinen Kinderbüchern geht es stets um die Frage: Wie können wir mit­einander leben? Wie kann man seinen Platz mit den anderen zusammen finden? Wir leben nun mal nicht allein, wir leben in sozialen Gefügen. Davon möchte ich erzählen. Erzählen ist für mich eine Form des Nachdenkens.

Worüber denken Sie mit Anuka nach?

Darüber, wie sich Gerechtigkeit erkämpfen lässt. Auch global. „Alle für Anuka“ ist ein politisches Buch. Kinder haben ja ein total gutes Gespür für Gerechtigkeit. Nicht nur, wenn sie sich selbst ungerecht behandelt fühlen. Auch dann, wenn sie etwas er­leben, was ungerecht ist. Ich habe sehr oft gesehen, wie Kinder sich spontan total berührt fühlen und auch aufgebracht werden. Normalerweise finden sie dafür aber keine Form. In meiner Geschichte schon, und die Empörung schlägt etwas höhere Wellen als sonst. Ich wollte zeigen, dass das möglich ist. Ich wollte Fragen stellen.

Welche Fragen?

Eigentlich ist der Aufstand der Kinder ja keine letztgültige Antwort auf Anukas Problem. Er ist ein Versuch, es zu lösen. Aber die Fragen bleiben offen: Was heißt Gerechtigkeit? Wie kann sie aussehen? Wie lassen sich verzwickte Probleme lösen? Was findet außerhalb meiner rosa Brille statt? Warum? Wie geht es denen, die ich sonst nur in den Medien zu sehen bekomme? Wie sieht ihr Alltag aus? Und habe ich etwas damit zu tun? Diese Fragen gehören für mich dazu.

"Erich Kästner hat früh vorgemacht, wie man Kinder herausfordert"

Seit wann?

Spätestens seit ich meine Pubertät im Jugendkeller der evangelischen Kirche verbracht habe, in Taizé und in der Friedensbewegung, auf Demonstrationen und Kirchentagen. Da ging es immer um große Fragen der Gerechtigkeit. Und um die ­Verantwortung für die Schöpfung. Keines dieser Themen hat sich erledigt. Im Gegenteil. Damals habe ich auch erlebt, wie es ist, sich mit anderen zusammenzutun und sich mit etwas zu beschäftigen, was außerhalb des eigenen Egos liegt.

Haben Sie Vorbilder unter den Kinderbuchautoren?

Früher hat mich „Das war der Hirbel“ von Peter Härtling sehr beeindruckt. Auch ­dieses Buch wirft Fragen auf. Ebenso die Bücher von Kirsten Boie. Sie traut sich ­immer wieder an politische Themen, die andere den Kindern gar nicht zutrauen. Natürlich muss es Unterhaltungsliteratur für Kinder geben, damit Kinder Leselust entwickeln. Aber wir brauchen auch ­Bücher, die Fragen aufwerfen. In den 1970er und 1980er Jahren kamen viel mehr politische Kinderbücher auf den Markt. Zum Beispiel die Bücher von Gudrun ­Pausewang. Und die von Christine Nöst­linger, sie hatten mehr Humor. Warum sollen Kinder sich immer nur in Fantasiewelten zurückziehen?

Hat Erich Kästner Sie beeinflusst?

Er hat zumindest früh vorgemacht, wie man Kinder herausfordert. Zum Beispiel in „Pünktchen und Anton“, das ist auch ein sehr utopisches Buch über ein reiches Mädchen und einen armen Jungen. Es geht um soziale Gerechtigkeit, und es ist sehr pfiffig erzählt. Es zeigt, dass Kinder unglaublich erfinderisch sein können, und dass sie gewitzt und helle sind. In ihrer relativ aussichtslosen Situation müssen sie sich wirklich etwas einfallen lassen. Ich fand auch lange keine Lösung für Anukas Lage. Die Idee mit dem Kinderaufstand musste ich mir erschreiben. Das war gar nicht einfach.

„Alle für Anuka“ ist auf jeder Seite oben mit einem Bilderfries von Urlaubsmotiven illustriert. Warum?

Jutta Bauer hat entschieden, dass das Buch ein bisschen nach Reiseprospekt aussehen sollte. Sie hat die Glanzlichter des Urlaubs mit Buntstiften zitiert. Das lässt das Buch leichter wirken, es wirkt schön bunt und hell. Die Kinder auf dem Cover sehen dagegen ernst aus, wie sie so dastehen. Ansonsten ist das Buch sparsam illustriert. Ältere Kinder können ja das Kino im Kopf ablaufen lassen. Ich habe auch im Text viele Leerstellen gelassen. Zum Beispiel was das Land angeht und die Hautfarbe der Kinder. Auch ihr genaues Alter bleibt offen. Es ist Literatur.

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