Lizzie Doron
Dirk von Nayhauß
"Ich habe mich geschämt, dass meine Mutter den Holocaust überlebt hat“
Dirk von Nayhauß
24.07.2015

In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?

Wenn ich morgens aufwache, vor sechs Uhr. An der Grenze zwischen Nacht und Tag kann ich am besten arbeiten. Das ist etwas Physisches, ich brauche das Licht des Morgens. Ich bin aufgewachsen mit der Angst, dass alles ein Ende findet, morgens jedoch fühle ich das nicht. Dann bin ich begierig, den Tag zu beginnen: zu essen, zu trinken, zu reden, zu arbeiten.

Was können Erwachsene von Kindern lernen?

Meine Tochter hat mir eine Lektion erteilt. In der Schule sollte sie die Geschichte ihrer Familie aufschreiben. Ich habe ihr geholfen, daraus ist mein erstes Buch entstanden. Ich selbst hatte eine sehr aufgeladene, komplizierte Beziehung zu meiner Mutter. Ich habe mich dafür geschämt, dass sie sich oft wie eine Verrückte benommen hat, ja dass sie eine Überlebende des Holocaust war. Ich wollte Israelin sein und dachte, jeder müsse tapfer sein, jeder ein Kämpfer. Meine Mutter war für mich eines dieser Lämmer, die sich zur Schlachtbank haben führen lassen. Erst durch meine Tochter habe ich erkannt, wie mutig meine Mutter gewesen ist.  

Haben Sie eine Vorstellung von Gott?

Nein. Ich habe nie an Gott geglaubt, wenn überhaupt, dann an Menschen. Meine Mutter stammte aus einer orthodoxen Familie, während des Krieges war sie im Krakauer Ghetto. Eines Tages wurde sie mit ihrer Gruppe nach Auschwitz deportiert. Als sie ankamen, begann der Rabbi zu beten. Alle anderen beteten mit, nicht meine Mutter. Sie suchte nach einer eigenen Lösung. Sie trennte sich von der Gruppe, zusammen mit einem Kind, und  traf eine Frau, die ihr eine Flüssigkeit gab. Damit konnten sie sich die Haare färben und sich als Deutsche ausgeben. Die beiden waren die einzigen Überlebenden. An diesem Tag in Auschwitz hat meine Mutter entschieden, dass man selbst für sein Leben verantwortlich ist. Ich habe meine Mutter nie beten sehen. Doch ab und zu hatte sie das Bedürfnis, mit Gott zu sprechen. Dann ging sie mit mir in eine christliche Kirche, und auf Jiddisch beschimpfte sie Gott und rief und schrie, dass er eine Katastrophe für den Menschen sei. Mir war es nur peinlich, ich hätte sterben mögen. Eines Tages fragte ich sie: Sind wir Christen oder Juden? Sie antwortete: Der Gott der Juden hat aufgehört, ihnen zuzu­hören. Er ist ein Krimineller, er ist ein Mörder. Ich glaube, zu den Christen hat Gott eine bessere Beziehung. – All das hat mir als Kind eine tiefes Verständnis davon gegeben, dass mich niemand retten wird. Das kann nur ich allein. Meine Mutter pflegte zu ­sagen, und das hatte einen großen Einfluss auf mich: „Die höchste Stufe, die ein Mensch erreichen kann, drückt sich in Güte aus. ­Es gibt keinen Überlebenden des Holocaust, der nicht wenigstens einmal erlebte, dass ihm jemand die Hand gereicht hat.“ Auch ihr, sie erzählte, dass ein deutscher Militärarzt ihr Pillen gegeben hat, als sie schon fast tot war, er hat ihr das Leben gerettet.

Muss man den Tod fürchten?

Ich fürchte ihn, ich würde gern ewig leben. Der Tod ist für mich eine Art totaler Leere, als würde man in ein tiefes Loch stürzen. Ich hatte keine Familie, ich lebte allein mit meiner Mutter. Damals bekam ich eine Vorstellung davon, wie es sein muss, wenn man nicht mehr ist. In Israel habe ich Kriege erlebt, viele meiner Freunde sind gestorben. Im Jom-Kippur-Krieg von 1973 habe ich an einem Tag sieben Freunde verloren, an einem einzigen Tag. Ich glaube, ich bin Schriftstellerin geworden, um die Geschichten all der Toten zu erzählen, die um mich herum sind.

Deutsche haben sechs Millionen Juden ermordet. Warum kommen Sie trotzdem gern nach Deutschland?

Berlin ist für mich zu einer zweiten Heimat geworden, jeden Monat bin ich eine Woche in Berlin, ich habe in Kreuzberg eine Wohnung. In Israel habe ich viele Kriege erlebt, viele schlechte Dinge sind dort geschehen. Auf eine gewisse Art ist Berlin der Ort, an dem ich die Wurzeln meiner Familie spüre. Meine Eltern mussten Europa verlassen, und trotzdem hatten sie viele gute ­Erinnerungen an ihr Leben vor dem Krieg. Ich glaube, in Berlin zu sein hilft mir, diese guten Erinnerungen zu berühren. Nein, ich fühle keine Wut, keinen Hass gegenüber Deutschen. Wir teilen dasselbe Trauma. Die meisten meiner deutschen Freunde haben Eltern, die Nazis waren. Sie wuchsen, wie auch ich, mit diesem Schweigen der Eltern auf. Ich brauche diese Freunde, um meine eigene Geschichte zu verstehen, um zu wissen, dass ich damit nicht allein bin. Wir müssen nicht einmal darüber reden, da ist ein tiefes, gegenseitiges Verständnis.

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Danke für dieses Interview. Lizzie Doron zeigt auf, dass die Kinder der Täter und der Opfer dieselben Gefühle teilen, wenn es um das Große Schweigen, das der Zweite Weltkrieg ausgelöst hat, geht.

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