Maike Brautmeier
Die sanfte Stimme des Islam
Gott ist an Macht und Strafe nicht gelegen, sagt Islam-Professor Mouhanad Khorchide. Viele Muslime sind da ganz anderer Ansicht
Portrait Eduard KoppLena Uphoff
19.02.2014

chrismon: Herr Professor Khorchide, wie viele begeisterte und wie viele besorgte Briefe und E-Mails haben Sie in den vergangenen Monaten von Menschen erhalten, die Angst haben, Ihre Arbeit als Professor in Münster könnte gefährdet sein?

Mouhanad Khorchide: ­Ich habe sehr viele begeisterte und weniger besorgte ­E-Mails bekommen. Gerade Muslime, die mein Buch gelesen haben, berichteten, dass es ihnen eine neue Perspektive auf ihren Glauben eröffnet hat. Es kamen sehr viele Mails des Inhalts: „Ich habe ange­fangen, meine Religion zu verstehen. Vorher hatte ich viele Probleme mit meiner Religion. Sie sprechen mir aus der Seele. Bitte machen Sie weiter!“ Es kamen Hunderte E-Mails und Facebook-Nachrichten dieser Art, hauptsächlich von Muslimen. Es kamen auch Mails aus dem salafistischen Lager, von Leuten, die neugierig Fragen gestellt und Bereitschaft gezeigt haben, ihre Meinungen zu überdenken, aber auch oft Beschimpfungen und Drohungen. Darin stand, dass ich einen falschen Islam lehre. Vermisst habe ich bei allen Kritiken allerdings die sachliche Ebene, also inhaltliche Argumente. 

Ihr Buch über die Barmherzigkeit ist das interessanteste theologische Buch der jüngsten Zeit über den Islam. Ist schon dieser Titel zu viel für die muslimische Welt?

Die Aussage „Islam ist Barmherzigkeit“ wird dem Islam vollkommen gerecht. Gott stellt sich im Koran mit den Worten vor: Ich bin der Allbarmherzige. Auf nichts ­anderes hat sich Gott verpflichtet als auf die Barmherzigkeit.

Und doch stößt gerade die Betonung der Barmherzigkeit Gottes bei manchen ­Muslimen auf Unverständnis.

Sie stößt auf Unverständnis bei manchen Muslimen, die nicht wegen der Inhalte des Buches verunsichert sind, sondern durch die Resonanz. Das Buch wurde weithin wohlwollend aufgenommen, von Muslimen und Nichtmuslimen. Da gerät man als Autor sehr schnell in den Verdacht: Wenn die Mehrheitsgesellschaft das Buch gutheißt, dann scheint daran irgendetwas nicht zu stimmen. Der Fehlschluss ist: Wenn der Westen den Islam nicht will – aber den Khorchide und sein Buch, dann stimmt etwas nicht. Das müssen wir bekämpfen. Ich sage: Das sind politische, keine theologischen Überlegungen. Es sind Überlegungen von Menschen, die sich ihrer Sache nicht ­sicher sind und im Grunde in Europa längst noch nicht angekommen sind, auch wenn sie ­dies nicht einsehen. Sie haben ein Problem mit Europa, nicht mit mir. 

Sie treten für eine neue Lesart des Korans ein, ihn nämlich stets mit seiner Entstehungsgeschichte zu lesen. Ist das ein ähnlicher Methodenstreit, wie er in der christlichen Theologie bei der his­torisch-kritischen Forschung über Jahrzehnte die Gemüter erhitzte?

Es gibt einen wesentlichen Unterschied: Wir gehen im Islam davon aus, dass der Koran tatsächlich das Wort Gottes ist. Historisch-kritische Arbeit bedeutet für uns nicht, dass Fragen wie diese im Mittelpunkt stehen: Wer sind die Autoren dieses
Textes und wer hat welche Elemente da hineingeschrieben? Was uns Muslime – und mich in meinem Buch – beschäftigt, ist die Frage: Wie sieht der historische Kontext aus, in dem Gott den Koran verkündet hat? Und daraus folgt dann im nächsten Schritt: Was will uns Gott damit heute sagen? Er würde heute sicher nicht dieselben Worte, dieselben Sätze verwenden, also nicht dieselbe Verpackung. Gott spricht zu uns Menschen nicht im luftfreien Raum, sondern er berücksichtigt unseren historischen Kontext. Ohne diesen zu verstehen, würden wir die eigentliche Botschaft nicht verstehen. 

Nun wollen Sie selbst eine historisch-kritische Koranausgabe erarbeiten. Wie weit sind Sie mit diesem Vorhaben?

Das ist ein mindestens fünfjähriges Projekt, das am Excellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster angesiedelt ist. Es soll der erste deutschsprachige Korankommentar sein. In der ersten Phase sichten wir, was die Exegeten zu den wichtigsten Themen gesagt haben. Und wie sie durch deren historische Kontexte im siebten, achten und neunten Jahrhundert geprägt waren. In zwei, drei Jahren haben wir da mehr zu verkünden. Am Ende werden es wohl mindestens sieben oder acht Bände sein.

Der Münsteraner Erfolgsautor Mouhanad Khorchide, Mitarbeiterinnen

Sie fordern, Muslime sollten sich von Vorschriften und Tabus frei machen, die nicht religiös begründet sind, sondern auf gesellschaftlichen Traditionen beruhen. Welche Vorschriften machen Ihren Studie­renden am meisten zu schaffen?

Was vielen jungen Menschen zu schaffen macht, sind viele offene theologische Fragen. Sie berichten, dass in ihrem früheren Koranunterricht der strafende Gott stark im Zentrum stand. Sie lernten, dass bei vielen ihrer Verhaltensweisen Gott teils drastische Konsequenzen ergreift. Bei manchen wirkt es nun als Befreiung, von der Barmherzigkeit Gottes zu hören. Sie lernen, dass religiöse Gebote eine Art göttliches Geschenk sind, um uns Menschen zu bereichern, sie sind für uns und nicht für Gott selbst gedacht. Gott geht es um uns Menschen, um unsere Glückseligkeit. Sie gewinnen dadurch ein ausgewogeneres Bild von Gott. Ich höre immer wieder von jungen Menschen, die sagen, dass sie nun eine ­
viel innigere Beziehung zu Gott aufbauen können, basierend auf Liebe und Vertrauen.

Ist das bei Frauen und Männern unterschiedlich?

Die Unterschiede sind nicht sehr groß. Die Jungen berichten, dass sie öfters als die Mädchen sanktioniert wurden, zum Teil mit Schlägen, wenn sie den religiösen Erwartungen in den Familien nicht gerecht wurden. Die Mädchen berichten hingegen, dass sie weniger Freiheiten hatten als die Jungen. Vieles davon gehört aber zum Glück langsam der Vergangenheit an.

Warum ist dieser Schritt zur Freiheit im Denken und Glauben für manche Muslime so schwierig?

Die Angst ist groß, in eine Situation zu geraten, in der es heißt: anything goes. Wenn wir heute frei denken, fürchten manche, schaffen wir morgen das Gebet ab, übermorgen das Fasten, danach Gott. Oder wir stellen ihm einen zweiten Gott zur Seite. Meine Antwort darauf ist: Im Islam gibt es klare Grenzen, die nicht verhandelbar sind, dazu gehören die Glaubenssätze und die ­gottesdienstlichen Praktiken. Im offenen und respektvollen Austausch werden immer Grenzen ausgehandelt, und dieser Austausch ist die Garantie dafür, die Grenzen des Unverhandelbaren zu bewahren. Ge­rade unter den Migranten hier in Deutschland gibt es nicht wenige Muslime, die keinen reflektierten Zugang zum Glauben haben. Weil sie nicht viel von der muslimischen Theologie und Tradition kennen, sind sie sehr schnell verunsichert. Ihnen sind klare, feste Strukturen wichtig. Allein schon zu fragen, was Prophetie heißt oder was das Jenseits ist, nimmt manchen Menschen die Sicherheit.

Was ist Ihr persönliches Motiv, immer wieder schmerzliche Nachfragen an Tradi­tion und Glauben zu stellen?

Unser Verständnis von Religion muss ­immer aktualisiert werden, damit wir nicht in einer Starre verhaftet bleiben und Religionen dadurch ihre Bedeutung in unserem Leben verlieren. Das beschäftigt mich persönlich. Auch wir Theo­logen ­fragen uns immer wieder: Wer und wie ist Gott? Wie handelt er in der Welt? ­Warum hat er sich für die Schöpfung ­entschieden, und was will er eigentlich von uns? Ich gestehe offen, dass mir manche Fragen schlaflose Nächte bereiten. Dann spreche ich auch mit Gott: Warum hast du dich so und nicht so entschieden? Was heißt, dass du ewig bist? Und wenn du ewig bist, wann begann die Schöpfung? Mein Hauptmotiv ist, Gott und die Welt plausibel verstehen zu wollen. Durch viele Gespräche mit ihm entwickelt sich – auch wenn sich das jetzt für einen Uniprofessor komisch anhört – eine innige Beziehung, eine Liebe zu ihm. Wenn ich länger nicht mit ihm geredet habe, dann spricht mein Herz: Es tut mir leid, ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt; aber jetzt können wir wieder reden. An dem Schönen, was ich dabei erfahre, möchte ich auch andere teilhaben lassen. 

Gott verstehen – geht das überhaupt?

Wir werden niemals sagen können: Jetzt habe ich Gott begriffen. Aber wir können ihn so verstehen, wie er selbst von uns verstanden werden will. Er sagt im Koran: Ich bin nah, sogar näher als die Halsschlag­ader. Begreifen kann man ihn nicht, sehr wohl aber missverstehen. Er sagt nicht: Ich bin der, der juristische Paragrafen verkündet, und ich schaue genau hin, wer sie einhält und wer nicht. Er will, ähnlich wie Eltern gegenüber ihren Kindern, eine lebendige, eine liebende Beziehung zu den Menschen und nicht nur den Richter spielen. Wenn man Religion auf juristische Aussagen reduziert, macht man aus Gott einen Richter, und unsere Beziehung zu ihm würde sich auf die Beziehung zwischen Befehlshaber und -empfängern beschränken. Eltern beurteilen ihre Kinder nicht danach, ob sie alles richtig machen. Religion ist mehr, als eine To-do-Liste abzuarbeiten.

Legen Sie sich da einen liebenden, einen freundlichen Gott zurecht? Auch Martin Luther hatte ja einen gnädigen Gott gefunden. Aber er wusste doch, Gott haut manchmal ganz schön drauf.

Wenn Sie unvoreingenommen den Koran lesen, werden Sie sich fragen: Wie kommt es, dass Gott immer zuerst von seiner Barmherzigkeit spricht? Natürlich kommt im Koran auch der strafende Gott vor. Aber er sagt: Meine Strafe erreicht, wen ich möchte, aber meine Barmherzigkeit umfasst alle Dinge. Gott ist nicht manchmal barmherzig, und manchmal straft er. Sondern er ist immer barmherzig. Und er straft nur aus Barmherzigkeit. Er will dadurch keine Macht demonstrieren. Er versucht nur, den Menschen wachzurütteln. Er tut es aus Liebe, aus Fürsorge. Den Menschen einfach alles machen lassen, das wäre unverantwortlich. Man muss im Koran schon lange nach dem bösen, zornigen Gott suchen. Die Relation des liebenden zum strafenden Gott im Koran ist 18 zu 1.

Sie bilden Nachwuchswissenschaftler und Religionslehrer wissenschaftlich aus. Mit welchem Erfolg?

Als ich 2010 hierherkam, gab es 13 neue Studierende, heute sind es 400. Als wir 2012 mit dem neuen Studiengang „Islamische Theologie und Religionslehre“ anfingen, hatten wir 620 Bewerbungen, wir nahmen 150 auf. In diesem Jahr sind es 1200 Bewerbungen geworden, davon nahmen wir 250 auf. 

Auch wegen Ihrer Theologie?
Gerade die jungen Muslime stellen viele Verstehensfragen an ihre Religion. Ich sage ihnen regelmäßig: Ich will nicht, dass jemand unreflektiert meine Meinung übernimmt, sondern dass er sich seine ­eigene Meinung bildet und diese fachlich begründet. Wir haben auch ein paar
salafistische Studierende. Ihnen sage ich: Bleibt so, wenn ihr das für richtig haltet, aber ihr müsst überzeugend argumen­tieren können und zugleich die Gegen­meinung würdigen. Es reicht nicht zu sagen: Ich bin so, weil ich auf Youtube ­dieses oder jenes Video gesehen habe, oder weil Gelehrter XY dies gesagt hat.

Sie hatten vor kurzem Bundespräsident Joachim Gauck zu Besuch. Was sagte er zu Ihrer Arbeit?

Er war erfreut über die Entwicklung, die unser Institut nimmt und erstaunt über die internationale Resonanz. Ich erzählte ihm, dass uns die Tochter des ehemaligen nigerianischen Präsidenten besucht hat. Sie ist extra eingeflogen – 13 Stunden hin, 13 Stunden zurück –, um sich eine Stunde mit mir zu unterhalten. Sie fragte: Ist das wahr, was Sie über die Barmherzigkeit Allahs lehren? Und dann schlug sie vor, dass die zukünftigen Imame Nigerias hier ein sechsjähriges Studium machen.

Studieren auch zukünftige Imame in Münster?

Ja, jeweils zur Hälfte Lehramtskandidaten und Theo­logen. Letztere können später auch Imame werden. Was unsere Studierenden später machen, ob sie in eine Moschee oder zum Beispiel in eine Beratungsstelle oder in die Wissenschaft gehen, ist ihnen überlassen. Ich gehe davon aus, dass ein Drittel unserer Studierenden potenzielle Imame sind.

Was bedeutet das für Sie genau: Ihre Theo­logie solle an das islamische Bekenntnis gebunden sein?

Dass man aus einer Innenperspektive arbeitet, nicht wie Religionswissenschaftler aus einer Außenperspektive. Ich kann als Theo­loge sagen: Gott erschuf die Welt aus seiner bedingungslosen Barmherzigkeit (Sure 55). Das ist ein normativer Satz. ­Islam- oder Religionswissenschaftler würden mit diesem Satz gar nichts anfangen können. Sie formulieren es anders, zum Beispiel so: Muslime meinen, dass Gott die Welt aus Barmherzigkeit erschaffen hat. Ich sage: Der Koran ist das Wort Gottes. Auch diesen Satz würde ein Islamwissenschaftler nicht einfach so ohne weiteres hinnehmen.

Haben Sie Verständnis für die Salafisten?

Ich verstehe, wie sie die Dinge denken. Junge Muslime begegnen immer wieder Vorurteilen. Sie hören: Ihr unzivilisierten Muslime, schaut euch doch einmal eure Herkunftsländer an! Sie fühlen sich ohnmächtig. Manche sind vielleicht Schulabbrecher. Und dann kommt ein islamistischer Prediger wie Pierre Vogel und sagt: Nicht wir, sondern die anderen sind die Bösen, und zwar seit der Kolonialzeit. Sie beuten uns aus, rauben unser Öl, sie heizen den Afghanistankrieg, den Nahostkonflikt an. Schaut mal, wie viele tote Frauen und Kinder es gibt. Das sind die Ungläubigen. Gott ist aber auf unserer Seite, er hasst die anderen. So wird aus Ohnmacht vermeintliche Macht. Das kann ich psychologisch nachvollziehen. Salafisten schenken Zuwendung, erzeugen das Gefühl von Sicherheit und Gruppenzugehörigkeit. Am Ende steht angeblich der Sieg. Weder in der Öffentlichkeit noch in den Moscheegemeinden finden die verunsicherten Seelen solche Machtfantasien.

Wie breit ist das religiöse Spektrum bei Ihren Studierenden? 

Es gibt solche und solche. In der Mitte stehen die Gemäßigten, das sind die meis­ten, die beten und keinen Alkohol trinken so wie ich, die aber in einer Balance mit der Gesellschaft stehen. Selten finden Sie bei uns die radikalen Hardcore-Muslime, denn sie halten von vornherein nichts von uns. Ein paar unserer Studenten haben Kontakte zu solchen Kreisen, aber sie ­kommen in die Uni mit offenen Fragen. Und sie sind schnell einsichtig. Diese Erfahrung habe ich mehrfach gemacht. ­Auch ein paar ganz liberale Studenten mit muslimischem Hintergrund gibt es.

Der islamische Religionsunterricht drängt mächtig in die deutschen Schulen. Welche Grundsätze sollten für seine Lehrerinnen und Lehrer gelten?

Sie sollen lernen, dass Theologie Reflek­tion des Glaubens ist. Der Religionsunterricht sollte den jungen Menschen Orientierung geben. Es ist jedoch nicht Aufgabe der Theologie, endgültige Wahrheiten zu produzieren. Es geht auch darum, seinen Glauben rational zu begründen und in ­einer verständlichen Sprache zu kommunizieren, verständlich auch für die säkulare Welt. Die Theologie soll keine Selbstgespräche führen. Und weiter: Die Theologie soll von der Tradition ausgehen, aber nicht bei ihr stehen bleiben. Es wäre keine Theo­logie, Traditionen nur zu reproduzieren. Außerdem: Wir leben hier nicht isoliert, nicht in einer homogenen islamischen, sondern in einer pluralen Gesellschaft. Die muslimischen Studierenden müssen sich mit Menschen aus anderen Religionen und Weltanschauungen verständigen können. Dafür ist es auch wichtig, dass sie die europäische Ideengeschichte kennen. Und dass sie Fragen stellen und Antworten überlegen: Was kann man aus dieser Geschichte fruchtbar machen für die islamische Theologie? Vielleicht werden die Muslime zum Beispiel einmal Immanuel Kants moralischen Gottesbeweis und seine Texte zur Aufklärung als Teil ihrer Theologie sehen.

Wie wird sich an den Universitäten die islamische Theologie weiterentwickeln? Wohin geht die Fahrt?

Es ist zu früh, das zu sagen. Wir haben ja mehrere Zentren islamischer Theologie. Sie sind zum Teil noch mit organisatorischen Fragen beschäftigt: Beiräte besetzen, Curricula entwerfen. Es lässt sich noch nicht sagen, welches Zentrum welches Profil haben wird. Die Frankfurter islamischen Theologen zum Beispiel haben eine große Nähe zur Ankaraner Schule. Die Erlanger Theologen wiederum sind sehr engagiert in religionspädagogischen und didaktischen Fragen. Die Landschaft wird sehr bunt sein. Es wird hoffentlich alles geben, was in der islamischen Theologie vertreten ist. Wir werden den Islam so haben, wie er wirklich ist: vielfältig.

Wie sieht der europäische Islam der ­Zukunft aus?

Der Islam wird Europa bereichern wie bereits im neunten, zehnten und elften Jahrhundert. Die Phase der Rechtfertigungen wird dann hinter uns liegen. Auch so Fragen wie: Warum Kopftücher? Warum Moscheen? Es wird dann endlich um die wichtige Frage gehen: Was hat der Islam der gesamten Gesellschaft zu geben und wie kann er sie bereichern?

Scharia. Ein Begriff, was nicht nur in der Öffentlichkeit Angst und Schrecken verbreitet, sondern auch durch die Art und Weise der Praxis als solches was man darunter verstanden hat, führte letzten Endes auch Muslime durch die archaische Anwendung in Angst und Schrecken.

Prof. Dr. Mouhanad Khorchide gelingt es in seinem neuen Buch “Scharia – der missverstandene Gott” nicht nur hermeneutische Denkansätze erfolgreich darzustellen, sondern auch “die missverstandenen Begriffe” die zu einem “missverstandenen Gott” geführt haben, mit starken Primärquellen aus dem Koran und der Sunna zu erläutern. Scharia bedeutet “Weg zur Quelle” (S. 73). Um diesen Begriff als ein juristisches Instrument zu widerlegen, bezieht er sich zum Beispiel auf die Stelle 5:48 im Koran, wo es darin heisst, dass verschiedene Gesetze und Wege unter den monotheistischen Religionen wie dem Christentum, Judentum und Islam bestimmt wurde, wobei der Begriff “Schir’a” was “Scharia” bedeutet im Arabischen vorkommt, im selben Vers jedoch von derselben Botschaft die Rede ist. Diese Interpretation von Ihm findet seine Unterstützung im Vers 13 der Sure 42 wo es darin ebenfalls heisst, dass den Früheren Propheten wie Noah, Moses und Jesus und Mohammed das gleiche Gesetz gegeben worden ist. Mit diesen Beispielen ist es dem Islamwissenschaftler gelungen, aus dem Koran selbst den Begriff “Scharia” zu definieren. Denn es kann nicht von juristischen Mitteln die Rede sein, da in der Thora und im Evangelium verschiedene Bestrafungen wie z.B. bei Unzucht definiert worden ist. Eine sehr wissenschaftliche Vorgehensweise konnte man bei der Differenzierung der früh mekkanischen und den medinensischen Suren beobachten. Solch eine Annäherung zum Koran ist von großer Bedeutung, um eine Kontextualisierung wie auch die Offenbarungsanlässe auf wissenschaftlicher Basis darstellen zu können, um die Begrifflichkeit wie die “Scharia” nicht im Sinne einer Ansammlung von detaillierten juristischen Regelungen zu verstehen. Einer seiner mutigsten Schritte war eine kritische Auseinandersetzung der Hadithwissenschaft. Er kritisiert die im sunnitischen Islam für “unantastbar” geltenden Autoritäten wie die Sammlungen von Bucharyy und analysiert die Niederschrift der Hadithe, deren Quellen ebenfalls eine Authentizität bei den Sunniten darstellen. Es führt tatsächlich kein Weg daran vorbei, dieses kritisch zu hinterfragen um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass die “Sunna in einer politisch sehr angespannten Lage systematisch gesammelt und verschriftlich wurde“.

Er kritisiert bei vielen Muslimen die fehlende Selbstreflexion und fordert zu Recht, dass eigene Intentionen stets neu hinterfragt werden sollten. Denn “die koranische Botschaft ist auf Veränderung und Entwicklung des Menschen und seiner Gesellschaft ausgerichtet, nicht auf Stillstand und Herkommen” (S. 54).

Ein Buch, das viele Fragen formuliert und sie dann auf Beste Art beantwortet. Ein Buch, worin die Scharia als ein dynamisches Modell, das neben dem Weg des Herzens zu Gott das Prinzip “Gerechtigkeit” beschreibt. Ein Buch, dass die Gott-Mensch-Beziehung zwischen hinterfragten und unhinterfragten differenziert. Ein Buch, was ich niemanden vorenthalten möchte.

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Stellen Sie sich bitte Folgendes vor:

In einem fiktiven überwiegend islamischen Land ist die Kritik am Christentum verbreitet. Man hält es für abergläubisch und für - schon an der Verehrung des Kreuzestodes erkennbar - lebensfeindlich und masochistisch. Christen werden scheel angesehen, man hält sie für Psychopathen. In dieser Kultur tritt nun ein christlicher Religionspädagoge als Professor auf, der - ohne sich je als Theologe durch einen Abschluss in diesem Fach qualifiziert zu haben oder seine Thesen im fachinternen Diskurs durch eine Hablititationsschrift zu begründen - sich vor der (in diesem Land mehrheitlich islamischen) Öffentlichkeit als Fachmann für christliche Kernfragen darstellt. Das Professorenamt hat er von einem islamischen Gremium übertragen bekommen, bestätigt wurde das durch die Christen, die allerdings von ihm verlangten, seine Thesen in den christlichen theologischen Diskurs einzubringen und dort zu verbreiten. Er jedoch schreibt Bestseller für das mehrheitlich islamische Publikums. Darin erzeugt er Aufsehen mit der These, das Christentum sei nur immer falsch verstanden worden, den Kreuzestod müsse man metaphorisch verstehen, auch sei Jesus selbstverständlich kein Gottessohn, sondern "nur" ein von Gott besonders begnadeter Mensch gewesen, wie seine Mutter übrigens auch. Man müsse endlich die Bibel neu interpretieren und die christlichen Dogmen überdenken, nie habe Jesus selbst sich eine besondere Gottessohnschaft angemaßt. Mit anderen Worten: Das Christentum sei eigentlich islamisch.
Wie würden Sie sich dabei fühlen - als Christ???? In eben diesem Land, in dem Sie es sowieso schon schwer genug haben? Wenn Sie sich das vorstellen können, dann können Sie auch die muslimische Kritik an Khorchide verstehen, der genau das in umgekehrter Richtung tut: Die Kernaussagen der eigenen Religion umdeuten und das Resultat publikumskonform vermarkten.
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Es wäre völlig sinnvoll, seine Ideen in den innerisamlischen Diskurs einzubringen, sich mit deren Gegnern im Fach auseinander zu setzen und sie tatsächlich theologisch zu untermauern. Und es ist empörend, was statt dessen vor sich geht. Und tragisch für beide Seiten, denn wenn sowieso alles Jacke wie Hose sein soll, dann ist die Chance einer gegenseitigen Erhellung vertan.

Kathrin Ehrenspeck

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Ich finde es gut,wenn ein evangelisches Magazin auch über andere Religionen berichtet.Wenn aber in einem honigsüßen Schalmeienklang über den Islam berichtet wird, in dessen Namen fast jeden Tag in der islamischen Welt Christen ermordet werden, dann soll etwas verschleiert werden.Es gibt im Islam Grenzen ,die nicht verhandelbar sind ,so heißt es in dem Artikel. Diese werden jedoch nicht genannt,weil dann nämlich die “Freundlichkeit” dahin ist. Im Buch “Das Gesetz Allahs” von Hiltrud Schröder öffnet jedem die Augen .Wenn wir den Koran nur falsch lesen – wie in dem Artikel behauptet - dann wundert es mich ,daß so viele Imane das predigen ,was wir fast jeden Tag in den islamischen Ländern erleben. Wenn der Besitz einer Bibel einem Todesurteil gleichkommt, dann kann von Freundlichkeit nicht mehr gesprochen werden.
Eine fundierte Darstellung des Islam mit Zitaten aus dem Koran auch im Vergleich zum Christentum halte ich zur Aufklärung ihrer Leser für dringend erforderlich.

L.Hoppe

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So spricht in Ihrem Interview Herr Khorchide, Professor für islamische
Theologie: "Gott ist nicht manchmal barmherzig, und manchmal straft er.
Sondern er ist immer barmherzig. Und er straft nur aus Barmherzigkeit."
Schlagen wir nun einmal im heiligen Buch des Islam, dem Koran (Reclam-Ausgabe), nach, wie der barmherzige Gott die Sünder am Jüngsten Tag straft, insbesondere diejenigen, die nicht an ihn glauben wollten, obwohl sie Zeichen genug hatten und sie diese - vielleicht aus freier Gewissensentscheidung? - nicht angenommen hatten. Das blüht ihnen:

Sie werden in das „ewige Feuer geworfen", mit „Eiterfluss“ und „Jauche“ getränkt (Suren 14,19f., 78,25), sie erhalten einen „Trunk aus siedendem Wasser“, der ihnen „die Eingeweide zerreißt“ (Sure 47,17), sie müssen Kleidungsstücke aus Feuer tragen (Sure 22,20), sie werden im Feuer brennen, und "sooft ihre Haut gar ist, geben wir (scil. Allah) ihnen eine andere Haut, damit sie die Strafe schmecken (Sure 4,59), und darüber hinaus werden die auf solch erfinderische Art Gepeinigten bei ihren Qualen von den erfreut zuschauenden Gläubigen verlacht (Sure 83,34). Denn: "Siehe, Allah ist mächtig und weise" (Sure 4,59).

Ähnliches hält auch die Bibel bereit, wenn auch nicht ganz so sadistisch ausgefeilt, dieses Qualitätsniveau sollt erst Dante in seiner "Divina Commedia" erreichen. Daraus ziehe ich für mich den Schluss: Lieber keinen Gott, als so einen.

Mit freundlichen Grüßen
Hermann Engster
Göttingen

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Gott kann nicht restlos alles. Gott hat z. B. nicht die Macht, den Menschen in ein perfektes Wesen zu verwandeln. Gott ist unpersönlich.
Christus ist nicht der "Sohn Gottes". Das höchstentwickelte Lebewesen wird dort geboren, wo die Not am Größten ist. Christus ist vielleicht das höchstentwickelte Lebewesen, vielleicht aber auch nicht.
Der Koran, ebenso wie die Bibel, müssen kritisch betrachtet werden. In der Bibel steht z. B., dass man die Heiden töten soll. Von dieser Aussage muss man sich distanzieren.
Es ist eine praxisorientierte Religion nötig. Der Gottesdienst muss durch das Geistheiler-Seminar ersetzt werden.

Antwort auf von Christlicher G… (nicht registriert)

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@Christlicher Ge...: "In der Bibel steht z. B., dass man die Heiden töten soll."

Ich vermute mal, daß erkannt wurde, wie blödsinnig diese Maßnahme wäre, angesichts von Reinkarnation und dem konfus-wettbewerbsbedingten "Zusammenleben" auf Erden!?

Christlicher Ge...: "Von dieser Aussage muss man sich distanzieren."

Das sehe ich ganz anders, besonders weil man dadurch zur Wahrheit von Gott als Vernunft des Geistes kommen kann, bzw. warum/wie Mensch erst fusioniert die Vernunftbegabung ebenbildlich "wie im Himmel all so auf Erden" zu Gott/Vernunft gestalten kann, bzw. somit den geistigen Stillstand seit Mensch erstem und bisher einzigen geistigen Evolutionssprung ("Vertreibung aus dem Paradies") beenden kann.

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