Michael Ondruch
Lieben und geliebt werden
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, heißt es in der Bibel. Was gerade keine Aufforderung zur Selbstliebe ist.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
26.08.2013

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Es ist einer der Kernsätze  des Alten Testaments. Man soll in seinem Verhalten keinen Unterschied machen zwischen du und ich. Was für mich gut ist, das soll auch anderen zustehen. „Wie dich selbst“, so soll man andere lieben. Geht es hier auch um Selbstliebe? Der Zusammenhang, in dem das Gebot der Nächstenliebe im 3. Buch Mose 19 steht, legt das gerade nicht nahe: „Du sollst in deinem Weinberg nicht die abgefallenen Beeren auflesen, sondern dem Armen und Fremdling sollst du es lassen. Du sollst dem Tauben nicht fluchen und vor den Blinden kein Hindernis legen. Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Was sich wie ein autoritäres Gebot liest, ist tatsächlich die Aufforderung, seinen freien Willen einzusetzen, sagt Henning Kiene vom Kirchenamt der EKD.

Es geht um das gute Tun, nicht um Liebe als ein Gefühl. Sinngemäß wird ja gesagt: Behandle deinen Nächs­ten so, wie du in seiner Situation selbst behandelt werden willst, mit Respekt und Großmut. Die Goldene Regel mit anderen Worten.

Menschen ohne Selbstachtung können sich und andere kaum realistisch einschätzen.

Jesus von Nazareth erklärte die alttestamentlichen Gebote der Gottes- und Nächs­tenliebe zum höchsten Gebot. Aber er sagte auch: „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein“ – so zitiert ihn  das Lukasevangelium (14,26).

Auch hier geht es nicht um Gefühle, sondern um das richtige Tun. Blutsbande und Eigeninteressen werden schroff zurückgewiesen. Der Jünger soll Christus gleichwerden, der sich selbst entäußerte, Knechtsgestalt annahm, sich erniedrigte bis zum Tod am Kreuz (Philipperbrief 2,7). Märtyrer, Asketen und Mönche folgten diesem Aufruf und prägten Techniken der Selbstkultivierung: die Beichte, die Meditation, das innere Zwiegespräch im Gebet.

Heutzutage ist es eine Binsenweisheit, dass nur derjenige lieben kann, der sich auch selbst annimmt. Menschen, denen jegliche Selbstachtung fehlt, können nicht zu ihren Stärken und Schwächen stehen. Ebensowenig können sie andere realistisch einschätzen und annehmen.

Selbstverleugung versus Selbstliebe? Seit der Zeit Jesu hat sich vieles verändert. Wer heute von Liebe spricht, meint vor allem das Gefühl und weniger die Tat. Überdies denkt er viel mehr über sich und seine Empfindungen nach, als es die ­Menschen zu biblischen Zeiten taten. Im Laufe der Jahrhunderte ist Innerlichkeit an die Stelle von Götter- und Geisterwelten getreten. Der Mensch erklärt sich selbst zum Thema, in Beichtgesprächen, Tage­büchern und Meditationsübungen.

„Selbstliebe ist das erste Gefühl eines Kindes; das zweite, welches diesem entspringt, ist die Liebe zu denen, welche seine Umgebung bilden.“ Der schweizerisch-französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau wies damit auf etwas Wichtiges hin: Liebe zu anderen setzt innere Stabilität und Selbstachtung voraus.

Die Bibel fordert nicht zu Selbstliebe auf, sie setzt sie voraus.

Erst der dänische Philosoph Sören Kierke­­gaard bezog Rousseaus Erkenntnis auf das biblische Gebot. „Wie dich selbst“, betonte er, so solle man seinen Nächsten lieben. Mit diesem Gebot werde die Selbstliebe an Nächstenliebe gebunden. Beides sei falsch: Dass man sich „selbstisch liebt“, also in Narzissmus verharrt, und dass man „selbstisch sich selbst nicht auf die rechte Weise lieben will.“

Am Anfang aller Liebe steht gleichwohl die Erfahrung, geliebt zu werden. Deswegen ist Elternliebe wichtig. Nur ist sie nicht immer entscheidend. Manche Menschen entwickeln Selbstachtung, obwohl ihre Eltern sie emotional ablehnten. Von „Resilienz“ sprechen dann die Psychologen. Es gebe eine Gottesliebe unabhängig von der der Eltern, sagen die Theologen.

Die Bibel fordert nicht zu Selbstliebe auf, sie setzt sie voraus. Und sie ermahnt, sich nicht von Eigeninteressen dominieren zu lassen. Jesus von Nazareth schätzte das alte Gebot hoch. Narzissmus wies er zurück, ebenso, nur der eigenen Familie verpflichtet zu sein. Er forderte auf, an­deren unabhängig von familiärer, ethnischer oder sonstiger Bindung beizustehen. Wer das tut, der liebt seinen Nächsten.

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Wie soll man sich heutzutage noch selbst schätzen können? Man wird hammermäßig kontrolliert und bekommt schon langsam Angst, ein falsche Wort zu sagen, zu früh zu sprechen, vielleicht die falsche Kleidung zu tragen. 1000 Dinge kann man falsch machen, man wird gemobbt und weiß noch nicht einmal warum. Man weiß nur, dass man schon Angst hat vor der nächsten Mobbingattacke. Angst, dass einem Pillen ins Getränk geworfen werden, die einem vollkommen irre machen. Hinterher wird man dann als "krank" hingestellt! Beispiel: Kirchliches Arbeitsverhältnis. Es werden einem nur noch 15 Stunden zugesagt. Macht man das öffentlich, fallen die Kollegen( wahrscheinlich auch noch der ganze Apparat, der dahinter steht über einen her) und dann bekommt man das dreifache Pensum aufgebrummt. Daheim macht die Familie mit beim Mobbing!
Warum, das weiß der Kuckuck!? Ich werde es wohl niemals verstehen! In dieser ach so christlichen Kirche werden Menschen in die Erde geknüppelt und niemand tut etwas dagegen!
Im Prinzip sagt man sogar: Selbst schuld, man darf sich halt nicht mobben lassen! SELBSTACHTUNG........ich lach mich tot!
Man hat keine Chance...null...wer so etwas erlebt hat, bekommt keinen Fuß mehr auf den Boden! Es wäre nicht schlecht die story mal von einer anderen Seite aufzurollen! Oder muß es erst Leichen geben?

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Zitat aus dem Artikel: "Behandle deinen Nächsten so, wie du in seiner Situation selbst behandelt werden willst" Na klar doch! Wenn ich derjenige wäre, dem die Firma gehört, in der ich meinen Lohn zu verdienen habe, würde ich mir fleißige und bescheidene Malocher wünschen. Jetzt bin ich aber blöderweise nicht der Unternehmer, sondern habe tatsächlich für ihn hinzuklotzen. Mein Eigeninteresse wäre ein ganz anderes. Deswegen freut es den Firmeninhaber ganz ungemein, dass der wackere Gottessohn das Eigeninteresse verteufelt hat, denn "Eigeninteressen werden schroff zurückgewiesen". Soweit schlimm genug. Das Ganze wird aber noch gekrönt durch den unausweichlich folgenden moralischen Appell an den Unternehmer, er möge doch bitteschön auch seine Arbeiter lieben. Damit lässt es sich leben!

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Zitat: "Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst.." - diese unselige Aussage wird bei Ihnen - schwuppdiwupp- zu einer seligen. Nach dem Augenwischen: "Märtyrer, Asketen und Mönche folgten diesem Aufruf und prägten Techniken der Selbstkultivierung". Das ist also Kultur. Und ich dachte immer, hier fordert ein Guru unbedingten Gehorsam und Nachfolge (an anderer Stelle, nicht mal den Vater beerdigen dürfen). Denn das ist ein wesentliches Kriterium für Sekten (http://www.sekten-sachsen.de/wasistsekte.htm): " Bruch mit der persönlichen Lebensgeschichte: Beziehungen zur Herkunftsfamilie, zu Partnern und Freunden werden abgebrochen. Schule, Studium, Beruf werden aufgegeben. Die bisherige Lebensgeschichte wird uminterpretiert." So kann man sich irren. Danke Herr Burkhard Weitz für die wahre Deutung: Hass ist Liebe. An was erinnert das mich? Ach ja: http://de.wikipedia.org/wiki/Neusprech

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Zweitausend Jahre Kant. Religion für Einsteiger: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Eine bemerkenswerte Interpretation der Aussage des AT, seiner dialektischen Erfüllung in NT und der historischen Vorwegnahme des Kantischen Imperativs.

Was - wie im AT oftmals auch angelegt - vernünftige Norm und Verhaltensweise für ein friedliches Gemeinwesen war, wird nun zu einer universellen Norm, die Ihre Kraft zu selten entfalten konnte und in den Kriegen „Aller gegen Alle“ zu oft unterlag.  Die aus diesen Kriegen resultierende Suche des neuzeitlichen Besitzbürgertums nach einem neuen Leviathan endete kläglich im „MARKT“ als dem modernen deus ex machina, dem neuen Götzen des „Habens“, der nichts vom Nächsten hält und Beleg scheint für das Scheitern der Aufklärung, weil er ein neuer Mythos ist.

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Es heißt doch WIE dich selbst, und nicht mehr ALS dich selbst.

In Ihrem Artikel finde ich ist die Ausgewogenheit des WIE, nicht gegeben!
Bereits die Überschrift drängt in eine Ecke.
Ihre Deutung trifft sicherlich im biblischen Kontext den Kern der Aussage und natürlich ist in unserer Welt einiges in Schieflage, das Ich steht viel zu sehr im Vordergrund. Aber meiner Erfahrung nach vergessen Sie, das der Artikel auch Mühlsteine auf dem Rücken z.B. vieler Pfege- und Jugendmitarbeiter bedeutet. Ich kenne deren nicht wenige, die aufgrund der aktuellen Situation kurz vor einem körperlichen uns seligem Kollaps stehen, die vergessen, sich genau so selbst zu lieben, denn sonst kann auch nicht geliebt werden. Bei Denen will ich mich stellvertretend entschuldigen.

Ein einziger treffender Satz, das Zitat von J.J. Rouseau, scheint mir in dem Artikel unterzugehen, und ist er doch entscheidend.
Liebe zu anderen setzt ... Selbstachtung voraus.

Jesus ist uns ein Beispiel, er missionierte die Menschen nicht 24h sondern kannte auch Ruhezeiten oder zog sich zurück zum Gebet mit Gott.

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