Illustration: Karolin Klimek
Mein Kapuzenpullover und ich
Oder: Warum die Selbstinszenierung mittels Kleidung eine Lebensaufgabe ist
19.07.2012

Was sehen Sie, wenn Sie Ihren Kleiderschrank öffnen? Sehen Sie sich? Oder liegen da nur ein paar Textilien, die mit Ihnen, Ihren Wünschen und Ihrer Persönlichkeit nichts zu tun haben? In ­früheren Jahrhunderten bestimmte der gesellschaftliche Stand ziemlich genau, was man tragen durfte und was nicht. Farben, Formen und Stoffe verbürgten den Stand, die Herkunft, den ­Beruf.

Als David Cameron noch konservativer Oppositionsführer in London war, hielt er 2006 eine vielbeachtete Rede, nachdem einige Einkaufszentren das Tragen von Hoodies, jenen schlabbrigen Kapuzenpullovern, verboten hatten. Cameron appellierte, niemanden wegen seiner Kleidung vorzuverurteilen: „Wir, die Leute in den glänzenden Anzügen, sehen Kapuzenpullover oft als etwas Aggressives an, als sei dieser Pullover die Uniform einer Rebellenarmee von jungen Gangstern. Aber die Kapuze ist viel eher ein defensives als ein offensives Zeichen. Die Kapuze ist eine Möglichkeit, sich unsichtbar zu machen. In einer gefährlichen Umgebung ist es manchmal das Beste, den Kopf einzuziehen.“ 

Kleider machen Leute

Mark Zuckerberg, der jugendliche Facebook-Milliardär trägt einen Kapuzenpullover, während er über den Börsengang seiner Firma verhandelt. Doch genau dieses schlabbrige Kleidungsstück, der „Hoodie“, wurde dem Jugendlichen Trayvon Martin in Florida im Februar 2012 zum Verhängnis, weil das Mitglied einer Bürgerwehr mit diesem Kleidungsstück sofort das Klischee des Gangs­ters assoziierte und Martin erschoss.

Bestimmte Kleidungstücke lösen zwar immer noch Assozia­tionen aus und mobilisieren Stereotypen, diese haben aber mit der Realität und der realen Person oft nichts mehr oder nur wenig zu tun. In Gottfried Kellers Novelle „Kleider machen Leute“ wird ein Schneider wegen seiner edlen Kleidung für einen Grafen gehalten. In unseren Tagen sehen Millionäre mitunter wie Obdachlose aus. Deshalb müsste die Novelle heute „Leute machen Kleider“ heißen, denn es kommt in erster Linie auf uns an, was die Kleidung über uns aussagt, was sie erzählt.

Möchte ich mich verbergen?

Der Mensch ist ein kleidungsbedürftiges Wesen, er ist aber auch ein geschichtsbedürftiges Wesen, das sich immer erzählen muss, sich in Geschichten behaupten muss, um seinen Platz und sein Ich zu verteidigen. So ist auch die Kleidung eine Geschichte, die uns zusammenhält, und wer mit seiner Kleidung nicht spricht, wer keinen Gedanken an sie verschwendet, wer mit ihr nicht spielt, steht nackt da.

Über solche Fragen musste ich unwillkürlich nachdenken, nachdem ich mich über Nacht in einen Kapuzenpullover-Junkie verwandelt hatte. Warum? Nachdem ich für ein Buchprojekt eine Woche als Sargträger gearbeitet und das erste Mal in meinem Leben Tote gesehen hatte, überkam mich der Wunsch nach neuer Kleidung. Ich erwarb in hastiger Reihenfolge acht Kapuzenpullover, verschieden in Farbe, Schnitt, Muster und Qualität. War es die Begegnung mit den erstarrten Toten, die nun ihr letztes Hemd trugen, die mich veranlasste, etwas Frisches, Ungetragenes über die Haut zu streifen? Möchte ich, dass man mich für einen Rapper hält? Nein! Einen Dieb? Nein! Möchte ich wie ein jung gebliebener Mann wirken? Schon eher! Möchte ich mich sammeln? Ja! Möchte ich mich verbergen? Bisweilen!

Eine kleine Kulturgeschichte der Kapuze

Ich betrieb ein bisschen Textil- und Kulturgeschichte. Asketische und schweigsame Mönche waren Kapuzenträger, auch ­Lagerarbeiter in New York, die häufig von eiskalten Räumen ins Freie wechselten, schließlich entdeckten Boxer und Hip-Hopper den Kapuzenpullover. Odysseus kehrte im Schutz seiner Kapuze unerkannt nach Hause zurück und tötete die zechenden Freier, der Sänger Orpheus stieg mit einem Kapuzenpullover in die Unterwelt hinab, um Eurydike zu retten, was bekanntlich schiefging, weil Orpheus sich umdrehte. Für mich ist die Kapuze auf dem Rücken ein Auge, das sich auf die Vergangenheit richtet. Sie ist aber auch Andachtsraum, sie ist ein lyrisches Bekenntnis zum Spiel, zum Ich, das kein endgültiges, festgeschriebenes, machtklirrendes Ich sein will. Mit meiner Kapuze fische ich in den Kleidergeschichten meines Lebens. Wer war ich, als ich dieses Hemd oder jenen Pullover anzog? Was versprach ich mir von diesem Anzug? Habe ich eine textile Heimat? 

Eine der heftigsten Seelenerschütterungen packte mich, als ich feststellen musste, dass ich kein XL-Typ, sondern lediglich ein L bin. Ja, bisweilen muss ich sogar zu M greifen. Das ist noch kein altersbedingtes Schrumpfen und Einlaufen, ich bin 46, sondern die Korrektur meiner falschen Selbstwahrnehmung. Jahrzehntelang hatte ich mir XL-Jacken und Pullover gekauft. Ich bin immerhin 1,87 m groß, aber ein wahrer Schulterhänfling. An meinem Selbstbild als Mann nagten Zweifel. Musste ich nicht auch an meinem Geistesumfang zweifeln? Ist meine Oberstübchenkompetenz überschaubarer, als ich dachte? Ich stieg tiefer in mein Bekleidungsleben hinab, studierte alte Fotos.

In Vaters Sonntagshemd auf die Tanzfläche

Die achtziger Jahre waren offenbar das Streifenhörnchen-Jahrzehnt. Meine erste Freundin strickte mir Tee trinkend einen bunten Ringelpulli mit V-Ausschnitt. Ich verlor sie und den Pulli. Ich trug als Mitglied einer Hardrock-Band hautenge Streifenhosen (längs), bis mir die Hose bei einem Sprung von der Bassbox riss. Dann kam die Dreistreifenphase. Ich wünschte mir eine Winterjacke von Adidas. Sie war wattiert, zu groß, und ich sah damit aus wie mein Opa beziehungsweise wie Bundestrainer Jupp Derwall, nachdem man ihn 1984 aus dem Amt gejagt hatte. Es folgte eine kurze Camus-/Sartre-Phase, in der ich möglichst schwarz durch die Welt gehen wollte. Das scheiterte an meinem fehlenden Dogmatismus.

Dann kam die Bohème-Phase, die ich auch Beutezugphase nenne. Man lieh hier und da (gab es selten zurück) und borgte aus dem Kleiderschrank der Eltern. Sakkos, aber vor allem schwere Wollmäntel oder Lederjacken. In Vaters Sonntagshemd ab auf die Tanzfläche! Und am nächsten Tag folgte der elterliche Zornausbruch, wenn sie ihre besten Stücke schweiß-, bier- und nikotin­getränkt geschändet fanden. Jugendliches Achselzucken, Erwachsene sind doch modisch eh so gut wie tot. Warum gönnen sie uns das kleine Stilabenteuer nicht? Eine kurze Dandyphase wurde abgebrochen, nachdem ich mir selbst aus der Zeit gefallen vorkam und mein Dispo Adieu sagte. Dann be­gannen auch schon die seriösen Jahre, und ich fragte mich ­häufiger, ob ich jemals zu Hause war in meiner Kleidung und ob mein Ich von meiner Kleidung jemals wirklich verstanden wurde.

Können wir das Alter betrügen?

Ist alles nur eine Frage des Geldes? Nein, entschieden nein. Zwar wächst mit dem Geld unser Spielraum, aber nicht unser Spielvermögen. Die teuersten Klamotten ersetzen nicht die Idee, die wir von uns haben, unser Selbstverständnis, unseren Ausdruck, unsere Fähigkeit, die Kleidung zu einer Charakterhaut oder zu einer ironischen Zitatenhülle zu machen. Manche Menschen sehen in ihrer Kleidung gut aus, weil es scheint, als verschwendeten sie nie einen Gedanken daran. Andere kleidet ge­rade das in Farbe und Form getauchte Gedankenspiel.

Jede Menge Fragen tauchen auf. Warum sehen Karl Lagerfeld und Wolfgang Joop wie Geiseln ihrer Mode aus? Muss man sich vor Männern, die Sakkos mit Goldknöpfen tragen, fürchten? Zwingt uns das Alter einen bestimmten Stil auf, oder können wir das Alter betrügen? Neigen Männer dazu, sich textil zu panzern, während Frauen einen Hang zur Poesie haben?

Eins scheint mir sicher: Kleidung kleidet uns nur, wenn wir sie kleiden. Die Kleidung, die auf der Stange hängt, will von uns erlöst werden. Sie ist gefesselt von den Versprechen der Werbung. Die Slogans, mit denen Kleidung beworben wird, sind meistens blind für das Leben. Nur wenn wir unseren Kleidern Leben schenken, schenken sie etwas zurück – Augenblicke, in denen wir uns eins fühlen mit dieser Haut aus Wunsch, Welt und Wille. Gut gekleidet ist nicht mehr der, der Konventionen einhält, sondern der, der sich in seiner Bekleidungsgeschichte zu Hause fühlt und ein „Ich“ entdeckt, zu dem er Ja sagen kann.

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Habe neulich eine Kurzgeschichte nach einer wahren Begebenheit geschrieben: "der Katzenhaarpullover." Darin geht es um eine Frau, die nach stundenlangem, entnervendem Suchen einen grauen Pullover von der Stange auswählt, weil er beim Darüberstreichen so herrlich weich ist und Sie glücklich macht. Sie sieht diesen in drei verschiedenen Varianten (mit blauem, grünen und rotem Muster) angeboten. Am nächsten Tag sitzt sie neben ihrer Banknachbarin, die nicht nur einen der "Katzenhaarpullover", sondern genau dieselbe Variante in grau-rot trägt. Was sie empfindet? Sie kann nicht anders: sie fühlt sich einfach nur wohl, auch neben Carola.

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