Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge
Der eine braucht ein Zuhause, der andere nur mal eben eine Luftmatratze. Oder es stehen gleich sechs Kinder vor der Tür. Das macht dann: sechs Luftmatratzen. Fünf Weihnachts­­­ge­schichten von Gästen und Wirten, vom Finden und vom
Verlieren einer Unterkunft. Engel kommen auch vor!
Portrait Anne Buhrfeind, chrismon stellvertretende ChefredakteurinLena Uphoff
Tim Wegner
Lena Uphoff
Tim Wegner
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Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
11.11.2011

„Keine Messer, keine Revolver, keine Toten!“ Sieben Jungs starren mich an. Ich glaube, sie haben verstanden. Wenn wir viele Kinder zu Gast haben, stelle ich mir vor, ich wäre Wyatt Earp. Wo immer der auch hinging, Dodge City oder Tombstone, er hatte seinen Laden im Griff. Pokern und trinken – okay. Aber keine groben Übergriffe. So hätte ich das auch gern.

Bei uns ist heute Pyjamaparty oder wie man das nennt. Auswärts übernachten ist total populär bei den Kids. Ein regelrechter Tourismus hat sich da entwickelt. Und Nick ist ein geselliges Kind. Er hat gleich sechs Kumpels eingeladen. Jetzt verfügt er sich in die Küche, um Cocktails zu mixen, aus verschiedenen Sorten Sirup und Limo, die er aus dem Toom rangeschleppt hat. Das wird klebrig, aber egal. Ich stehe mit einer Pappschachtel im Flur und entwaffne die Gäste: iPods, PSPs, Handys – alles hier rein. Man will sie am nächsten Morgen ja nicht mit irrem Blick und zittern­den Händen in die Welt entlassen.

Außerdem haben wir Programm. Übernachtung heißt mindestens Halbpension. Den Standard, Würstchen mit Pommes, haben wir abgeschafft. Die Würstchen wegen Mehmet und Karim, die Fritten, weil ich mal auf einer anderen Party gesehen habe, was man damit machen kann. Das wollen Sie aber nicht wissen. Die Margherita geht jedenfalls ganz gut. Nur Marc verlangt nach Toast. Tom, der sich bei uns sowieso wie zu Hause fühlt, hat sich einen Joghurt aus dem oberen Kühlschrankfach gezerrt. Dauert bloß zwei Minuten, das aufzuwischen.

Ich fahre Alexander nach Hause, dem ist schlecht geworden

Der Film, den wir nach langer Debatte um Altersfreigaben aus­gesucht haben, irgendwas mit Außerirdischen, ist ein paar Jungs zu uncool; einer erzählt von „Alien vs. Predator“, der wäre besser. Auf­gedreht sind sie danach trotzdem, deshalb runter in den Garten. Die Fußballtore und die Kartons vom letzten Umzug, die sie im Keller gefunden haben, kann ich morgen wegräumen. Um zehn mache ich einen Cut.

Die Jungs ziehen mit ihren Schlafsäcken ins Wohnzimmer und rücken die Möbel an die Wand. Es sieht aus wie im Zeltlager. Mein Mann und ich bunkern uns im Schlafzimmer ein. Um halb eins lärmen sie immer noch. Wir unternehmen mehrere Überraschungsüberfälle aufs Fort Pyjama. Verhandeln, drohen – nichts hilft. Irgendwann denke ich, dass ich in den Schlafsäcken was flimmern sehe. Die haben Zweit-iPods! Ich tue, als hätte ich nichts gemerkt. Später müssen wir noch mal raus. Ich fahre Alexander nach Hause, dem ist schlecht geworden.

Am Morgen sitzen sechs Kinder aufgeräumt in der unaufgeräumten Küche. Tom leert das Nutellaglas auf ex, Denis zeigt mir eine Müsli­skulptur. Als sie gehen, lehne ich in der Tür, fühle mich ungeduscht und verteile den konfiszierten Elektrokram. „Tschüs“, sagt Tom zu niemand im Besonderen, „war super.“ – „Das machen wir bald wieder“, meint Marc. – „Ja, klar,“ sage ich, „hat Spaß gemacht.“ Und komischerweise meine ich das auch so. Gute Gäste bringen ihre Gastgeber immer ein Stück weiter. 

„Das ist eine Win-win-Situation“, sagt Wilhelm Welzin und trinkt einen Schluck Mezzo-Cola. „Prost“, sagt Rolf Stadtlener von der anderen Seite des Küchentisches und hebt sein Glas. Hamburg-Bramfeld, eine kleine Straße, eine kleine Wohnung im zweiten Stock, eine Küche, die schon ein bisschen nach Männer-WG aussieht: gemütlich, aber es könnte mal einer aufräumen. Wilhelm, 60, und Rolf, 65, wohnen hier jetzt zusammen, seit drei Wochen.

Da hatte Rolf ziemlich dringend eine Unterkunft gebraucht. Eher: verzweifelt gesucht. Mit Hartz IV, sagt er, findet man so leicht keinen Vermieter. Bald eineinhalb Jahre hatte er sich durchgeschlagen, erst drei Monate bei der Stadtmission, dann hier und dort, bei Freunden übernachtet, im Sommer auch mal auf einer Bank im Park. Zuletzt im Flughafen. „In der Lounge! Wenn man sich sauber hält, dann geht das.“ Aber dann kamen ein paar üblere Nächte, und ins Pik As wollte er auf keinen Fall. „Da wird so viel geklaut!“ – „Ja“, sagt Wilhelm, „im Pik As musst du die Bettpfosten in deine Schuhe stellen, wenn dir deine Schuhe lieb sind.“ Immerhin können obdachlose Männer da nachts schlafen.

Ich habe ihn vermisst gemeldet. Das geht jetzt auch online!

Wilhelm und Rolf kennen sich seit einer Silvester­fete vor 35 Jahren, als sie zufällig am selben Tisch saßen. Eine Silvesterfete ohne Sekt und Schampus, für beide die erste dieser Art, denn sie waren da gerade erst zu den Anonymen Alkoholikern gestoßen. Rolf blieb dabei, mit einem kurzen Rückfall, bei Wilhelm hat es länger gedauert. Aber das Thema hat sie verbunden. Und die Musik. Die Freude am satten Sound aus guten Boxen, Klassik, Rock oder der Jazz von Charlie Parker oder Pat Metheny. Die beiden hielten Kontakt. „Gab mal ein paar Jahre, da hörte ich nichts“, sagt Wilhelm. „Da war ich mir sicher: Der ist entweder tot oder in Blankenese.“ – „Und das nächste Mal“, sagt Rolf, „da hast du mich sogar bei der Polizei vermisst gemeldet.“ – „Stimmt! Und da hab ich gelernt: Das kann man jetzt auch online machen.“

„Tja“, sagt Wilhelm, „und dann stellt sich raus, mein alter Rolf war wohnungslos.“ Wilhelm wusste, was man da unternimmt, Sozialpäda­gogik studiert, in der Jugendhilfe gearbeitet, da kennt man die Adressen. Als Erstes brachte er seinen alten Freund bei „Brot und Rosen“ unter, einer christlichen Lebensgemeinschaft, Wilhelms Freunde von der Bruderschaft des Rauhen Hauses, sie hatten übers Wochenende ein Zimmer frei. Wilhelm blieb am Ball. „Schließlich hatte ich einen, der sagte: Der kann bei mir zur Untermiete wohnen.“

Untermiete? Da kann er doch genauso gut bei mir wohnen

Zur Untermiete? „Es hat sieben Stunden gedauert, und dann, zack, war der Gedanke da. Zur Untermiete kann er auch bei mir wohnen. Das schien mir sofort goldrichtig zu sein. Ja, drollig, nicht? Was soll man sagen: Ich hab’s noch nicht bereut.“

Erst ein paar Wochen vorher war Wilhelms Frau gestorben, nach 17 Jahren Ehe. 17 Jahre hatte er mit ihr diese Wohnung geteilt und im Winter den Schein der Küchenlampe gesehen, wenn er abends mit dem Rad von der Arbeit nach Hause kam. Vor diesem Winter graute ihm. Die Küche dunkel, die Wohnung leer. „Ich hatte schon daran gedacht, die Lampe brennen zu lassen tagsüber. Ist aber auch keine Lösung.“

Jetzt brennt die Lampe, wenn Wilhelm von der Hochschule heimkommt, wo er Hausmeis­ter und Drucker ist. Manchmal kommen die beiden zusammen nach Hause, wenn Rolf bei ihm aushilft, ehrenamtlich. „Ich scheue keine Arbeit“, sagt Rolf, „auch zu Hause nicht.“ Da räumt er auf, so gut es jetzt geht, er kauft ein, soweit es die Gesundheit zulässt. „Nur kochen“, seufzt Wilhelm. „Ich glaube, ich bin hier der Einzige, der vernünftig kochen kann.“ – „Warte mal“, sagt sein alter Kumpel. „Das kommt schon wieder. Früher konnte ich das.“

Rolf und Wilhelm haben sogar Zukunftspläne. Wenn Wilhelm in Rente geht, wollen sie zusammen aufs Land ziehen, irgendwohin, wo es billiger, grüner und ruhiger ist als in Hamburg. Vielleicht nach Freiburg an der Elbe, ein ganz kleines Kaff. Da gibt es aber noch keine Gruppe von den Anonymen Alkoholikern. „Alkoholiker“, sagt Wilhelm, „gibt’s da bestimmt. Die Gruppe gründen wir dann.“

Elisabeth Laudenbach, 60. Seit 40 Jahren betreibt sie mit ihrem Mann Manfred das Fuldaer Haus in der Rhön, eine turmförmige Gästeunterkunft aus Natursteinen und mit grünen Fensterläden.

Was machen Sie, wenn Gäste spontan kommen und kein Platz mehr in der Herberge ist?

Elisabeth Laudenbach: Dann ruf ich in der Nachbarschaft an. Im Jugendheim gleich über den Hof ist manchmal noch was frei. Wenn nicht, müssen sie weiter nach Poppenhausen.

Gibt es Auflagen, dass Sie Wanderern eine Unterkunft bieten müssen?

Nein. Im Alpenverein ist das so. Jemand läuft den Berg hoch und kommt nicht weg. Der kriegt dann eine Bank oder irgendetwas Einfaches. Aber wir sind ja nicht von der Zivilisation abgeschnitten.

Was machen Wanderer, wenn Ihr Haus und das Jugendheim voll sind?

Wir haben schon welche weggefahren. Vor einem Jahr kamen mal fünf Wanderer, die hatten sich nicht angemeldet. Mein Mann hat herum telefoniert. Alles war voll, bis auf das Hotel Milseburg. Einzelne kriegen eigentlich immer was.

Haben sich die Fünf bedankt?

Sie kamen noch mal vorbei und verzehrten was. Da freut man sich doch, wenn sie Rückmeldung geben. Aber es ist eine Selbstverständlichkeit, dass man da hilft.

Bestehen auch Gäste darauf, dass sie dann wenigstens in einer so schönen Herberge wie Ihrer unterkommen?

Wanderer sind problemlos. Autofahrer weniger. Man bietet ihnen was an, und manchmal wissen sie nicht, was sie wollen. Hierhin oder dorthin. Aber sie können ja zur Not auch noch bis Fulda ausweichen.

Haben sich Wanderer schon mal zu Ihnen verlaufen?

Gäste, die von uns gestartet sind, schon. Sie sind anderthalb Stunden im Kreis gelaufen und haben nicht zurückgefunden. Mir ist das auch schon passiert. Das war vor 37 Jahren. Unser großer Sohn, damals 3, war dabei. Ich war mit ihm in der Nachbarschaft zu einer Einladung. Es hatte so viel geschneit, dass die Pfosten nicht mehr rausguckten, und es gab Nebel. Da habe ich eine Stunde zurück gebraucht – statt 20 Minuten.

Mussten Sie schon Gäste rausschmeißen?

Selten. Einer Gruppe mussten wir Hausverbot geben. Die waren in besoffenem Zustand aufs Dach geklettert. Das war lebensgefährlich, da mussten wir durchgreifen.

Wie kamen Sie darauf, das Fuldaer Haus vom Rhönclub zu pachten?

1972 sollte ein junges Paar das Haus übernehmen. Aber sie sind auf dem Weg von Fulda zurück verunglückt, die Frau starb. Das war natürlich Gesprächsthema hier. Mein Mann kommt aus Poppenhausen, und meine Schwiegermutter sagte dann: Das wäre doch was für uns beiden. Wir waren jung verheiratet, beide Köche. „Guckt’s euch mal an“, sagte sie. Mein Mann war mit der Schulklasse schon mal da gewesen, ich kannte es gar nicht. Wir fuhren auf die Maulkuppe hoch, aber das Haus war geschlossen, wir konnten es nur von außen ansehen. Dann haben wir uns mit dem Rhönclub in Verbindung gesetzt.

Und Sie haben es nie bereut?

Nie. Das Schöne ist ja: Wir arbeiten hier zusammen. Sonst ist der Mann ja oft wer weiß wo.

Was machen Sie anders als Ihre Vorgänger?

Ich backe selber Kuchen und verkaufe den. Das war genau das Richtige. Gastronomie hatten unsere Vorgänger ja auch gemacht, ein bisschen einfacher vielleicht. Aber wir haben uns auch geändert. Die Ansprüche der Gäste sind gewachsen.

Trotzdem sind Ihre Unterkünfte noch immer so klein wie vor 40 Jahren.

Daran lässt sich auch nicht viel ändern. Auf der Etage unterm Dach haben wir ein WC und eine Dusche eingebaut – wo vorher das Einzelzimmer war. Aber wenn Neulinge anrufen sag ich immer: „Sie wissen aber, dass die Zimmer ohne Dusche und WC sind“. – Ach, sagen sie dann. Aber trotzdem sind die Gäste zufrieden, und die Mundpropaganda hat uns über die Jahre sehr geholfen.

Haben Sie Stammgäste?

Ja, auch Einzelgäste. Ab 1976 war jedes Jahr über 30 Jahre eine Gruppe Faustballer aus Aschaffenburg da. Das hat sich dann irgendwann zerschlagen.

Und Sie arbeiten wirklich sieben Tage die Woche?

Ja. Wir sind immer und ewig da. Solange wir gesund sind. Von halb acht bis abends um elf. Wenn Gäste schon früher Frühstück haben wollen, beginnen wir auch mal um sechs. Wenn es am nächsten Tag in der Küche eng wird, backe ich abends vorher noch Kuchen. Da kann es schon mal 2 Uhr werden, bevor ich ins Bett komme.

Seit 40 Jahren?

Ja.

Nehmen Sie Urlaub?

Im Frühjahr vier Tage. Und jetzt im November hatten wir das Haus drei Wochen geschlossen. Da haben wir hier im Haus zu tun. Und wir waren bei unserem jüngeren Sohn in Bayern zu Besuch.

Haben Sie Heilig Abend geschlossen?

Ab 16 Uhr. Vorher kommen Stammgäste. Und an den beiden Weihnachtstagen ist wieder normaler Betrieb.

Als das erste Mal ein fremder Mann bei mir übernachten sollte, habe ich kurz überlegt: Wen hole ich mir da ins Haus? Ich bin nicht ängstlich. Meine Mutter hat fast 30 Jahre Kinderaustausche organisiert, als de Gaulle und Adenauer die deutsch-französische Freundschaft besiegelten. Wir hatten oft Freunde und Gäste. Und außer­dem denke ich mir: Wenn ein Mann sechs Stunden Autofahrt auf sich nimmt, nur damit er einige Stunden sein Kind sehen darf – das ist ein Guter. Dem vertraue ich.


Denn das ist die Idee von „Mein Papa kommt“: Private Gastgeber öffnen ihre Wohnungen für Scheidungsväter, die ihr Kind besuchen wollen, das in einer anderen Stadt wohnt. Die Idee entstand, als eine Lehrerin im Religionsunterricht in ihrer Grundschulklasse die Kinder aufschreiben ließ, was sie sich wünschen. „Ich wünsche mir, dass mein Papa auch im Winter zu Besuch kommt“, schrieb ein Kind – und es stellte sich heraus: Im Sommer konnte der geschiedene Vater zelten, wenn er sein Kind besuchen kam. Ein Hotel konnte er sich aber nicht leisten. Auch mein erster Gast gehört zu denen, die ihr Kind nicht besuchen könnten, wenn es diese Möglich­keit der kostenlosen Herberge nicht gäbe. Er ist Fabrikarbeiter in Leipzig und hat wenig Geld. Wenn er wieder wegfährt, legt er einen Riegel „Merci“-Schokolade auf den Küchentisch. Und räumt alles so penibel auf, dass ich manchmal überlege, ob er überhaupt da war.

Ein Hotel können sich viele nicht leisten,
im Sommer zelten sie

Er konnte am Anfang gar nicht fassen, dass ich ihm einfach so vertraue. Denn schon bei seinem zweiten Besuch war ich selber gar nicht da, ich bin als systemische Familien- und Managementberaterin oft unterwegs. „Der Schlüssel ist im Fahrradunterstand, das große, weiße Viereckige ist der Kühlschrank“, hab ich ihm per SMS auf sein Handy geschickt. Er war irritiert und hat mehrmals nachgefragt, ob er wirklich alleine in die Wohnung darf. Bis heute habe ich nur seinen Namen und seine Handynummer, das geht schon in Ordnung.

Sein Kind ist jetzt fast drei, der Vater kommt alle drei bis vier Wochen. Manchmal trinken wir noch ein Glas Wein oder Tee, und er erzählt von der Zeit mit seiner Tochter. Vom Zoobesuch oder vom Wildpark. Neuerdings kann er bei schlechtem Wetter mit ihr auch in ein Spielzimmer in der Nähe vom Hauptbahnhof in München gehen, das die „EFA – die evangelische Fachstelle für alleinerziehende Mütter und Väter“ eingerichtet hat. Mit Kuschelecke und Spielzeug.

Es ist für mich auch schön zu erfahren, wenn der Papa erzählt, dass die Nähe zu seinem Kind wächst, dass es sich so freut, wenn er wiederkommt. Dass auch eine Entspannung zwischen den getrennt lebenden Eltern entsteht, wenn die Mutter ihm das Kind mehrere Stunden anvertraut. Das Kind gewinnt Vertrauen zum Papa. Die Eltern sorgen so auch für ihr gemeinsames Kind. Ich glaube, dass dadurch das Familiensystem die Chance hat, wieder die „Ordnung der Liebe“ zu finden.

Diese Väter wollen sich gerade nicht
aus dem Staub machen

Es geht auch nicht nur ums Geld. Einer der Väter, den ich ab und zu beherberge, könnte sich wohl ein Hotel leisten. Er ist EDV-Fachmann und verdient nicht schlecht. Aber er sagt, dass es nach dem Besuch beim Kind ganz furchtbar ist, wenn man in ein anonymes Hotelzimmer gehen muss. Man ist dann aufgewühlt. Und es tut gut, bei Menschen zu übernachten, von denen man weiß, man ist angenommen. Ich erlebe selbst, welche Vorurteile es noch gibt über Scheidungsfamilien. „Das würde ich nie machen“, höre ich in Gesprächen, „diese Väter machen sich doch alle aus dem Staub.“ Aber diese Väter, denen wir Herberge gewähren, die wollen sich ja gerade nicht aus dem Staub machen. Vorurteile kann man nur abbauen, wenn man Menschen vorurteilsfrei und mit Liebe begegnet, das hat schon meine Mutter gesagt.

Für mich ist die Unterstützung von „Mein Papa kommt“ eine bewusste Entscheidung. Ich mache etwas, das mir ganz und gar entspricht. Ich nenne es Sinn. Und übrigens auch gelebten Glauben.
 

Petra Duffek ist gelernte Lehrerin und arbeitet als Familien- und Managementberaterin. www.mein-papa-kommt.de

Es ist keine schöne Herberge, über die verhandelt wird. „Das Wohnhaus weist eine einfache Ausstattung sowie einen erhöhten Modernisierungsbedarf auf“, schreibt der Architekt in seinem Gutachten fürs Amtsgericht Frankfurt am Main. Auf den Fotos fürs Gutachten ist es dunkel, eine Schneeflocke rieselt durchs Blitzlicht. Die grauen Kunststoffpaneele erwecken den Eindruck, das Haus sei seit seinem Baujahr 1930 nie mehr gewesen als ein Provisorium.

Hier lebt Herr D. auf 71 Quadratmetern. Noch. „Zwangsversteigerung zum Zwecke der Aufhebung der Gemeinschaft“ heißt das, was sich im Saal 102 im Amtsgericht Frankfurt abspielt. Herr D. hat dunk­le Haare, grau meliert. Stumm sitzt er neben seinem Anwalt. Ihm gegenüber sitzt Herr S., ein junger Mann, er hat seine Eltern mitgebracht und seinen Anwalt. Er kippelt auf seinem Stuhl. Sein Vater taxiert die Interessenten, die hinten im Saal sitzen, gut 20 Leute. Herr D. und Herr S. reden nicht miteinander. Ein Tes­ta­ment hat sie zu einer Erben­gemeinschaft gemacht, aber Herr S. will dieser Gemeinschaft nicht mehr angehören. Er hat die Zwangsversteigerung beantragt, weil er sich nicht mit Herrn D. einigen konnte, Haus und Grund zu verkaufen.

Gemurmel im Saal:
120 000 Euro kommen noch dazu!

Vorne im Saal sitzt eine Urkundsbeamtin, die jedes Wort der Rechtspflegerin neben ihr protokolliert. Die Rechtspflegerin liest vor, was vorher noch kein Bieter weiß: dass Schulden auf dem Grundstück lasten, über 120 000 Euro. Gemurmel im Saal, viele verstehen nicht, was die Rechtspflegerin meint. Sie erklärt es: Jeder müsse zu seinem Gebot im Kopf 120 000 Euro hinzurechnen.

Dann beginnt die Bietungszeit, sie dauert eine halbe Stunde. Angeregte Gespräche im Saal, sie kreisen um das Gutachten, das durch die Reihen geht. Der Anwalt von S. raunt, das Grundstück sei riesig, 600 Quadratmeter. Drei Männer stehen auf, zeigen ihre Ausweise vor, die Urkundsbeamtin nimmt die Personalien auf. Die Rechtspflegerin verkündet: „Erstes Gebot der Bietergemeinschaft: 80 000 Euro.“

Ein Mann im Anzug tritt nach vorn. „Das Gebot liegt jetzt bei 85 000“, sagt die Rechtspflegerin. Die drei Männer aus der Bieter­gemeinschaft haben Pech, ihr Konkurrent sitzt vor ihnen. Wie weit wird er gehen? Sie können nicht in seinem Gesicht lesen.

„Noch zwei Minuten“, sagt die Rechtspflegerin.
Von hinten kommt: „88 000.“
Der Mann im Anzug kontert: „93 000.“
Bei 105 000 Euro durch die Bietergemeinschaft sagt die Rechtspflegerin: „Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten.“

Das Haus steht auf einem Grundstück in guter Frankfurter Lage: ein Park vor der Tür, die U-Bahn-Station ist 400 Meter entfernt. Der Quadratmeter Bauland kostet in Frankfurt zwischen 350 und 2800 Euro. Seine Schulden ist Herr D. los – aber auch seine Herberge. Und die Bietergemeinschaft hat ein gutes Geschäft gemacht.

Niemand hat sie ausdrücklich eingeladen, doch plötzlich stehen sie vor der Tür: minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Die Sozialpädagogin Sabine Schmidt vom Clearing-House in Salzburg (SOS Kinderdorf) erzählt, wie sie mit diesen Gäs­ten umgeht.

chrismon: Wenn Sie zu Hause Gäste bekommen, was sagen und tun Sie als Erstes?

Sabine Schmidt: „Willkommen! Schön, dass ihr da seid.“ Ich bitte sie ins Wohnzimmer und biete was zu trinken an. Ich hab auch immer gut gekocht.

Und wenn vor der Tür Ihrer Arbeitsstätte in Salzburg ein jugendlicher Flüchtling steht?

Ich sag: „Hallo, ich bin die Sabine. Willkommen im Clearing-House!“ Und weil sie meist den ganzen Tag im Bus unterwegs waren, vom Flüchtlingslager her, biete ich ihnen was zu trinken und essen an.

Bringen diese Gäste – wie Ihre Gäste zu Hause – gute Laune und Gesprächigkeit mit?

Nein, sie sind müde und eingeschüchtert. Erst wenn sie merken, dass wir ihnen wohlgesonnen sind – das ist meist nach zwei, drei Wochen –, lockern sie auf und haben dann sehr viele Fragen: Wo sie hier eigentlich sind und was das für eine Kultur ist. 

Welche Erfahrungen bringen die Jugendlichen mit?

Die Mädchen haben oft furchtbare sexuelle Gewalt erlebt. Und viele der Jugendlichen mussten mitansehen, wie Eltern oder Geschwister umgebracht wurden.

Was brauchen die Jugendlichen, und was können Sie ihnen geben?

Sie brauchen – so wie alle Leute – Respekt, und den bekommen sie hier auch. Sie brauchen das Gefühl, dass sie hier im Haus ein Stück weit ­sicher sind. Und dass wir sie begleiten, egal was passiert.

Und was können Sie ihnen nicht geben?

Eine Elternbeziehung. Und wir können ihnen auch nicht die Sicherheit geben, dass ihr Asylverfahren gut ausgehen wird. Viele von ihnen müssen wieder zurück. Das ist für jeden sehr, sehr hart.

Ihre Gäste sind alle in der Pubertät. Gibt es da Unterschiede zu einheimischen Jugendlichen?

Ich habe schon in vielen Kulturen gelebt und festgestellt: Alle Jugendlichen in dem Alter wollen mehr Taschengeld; und ganz wichtig ist, dass die Haare gut sitzen und die Kleidung super ausschaut.

Ihre Jugendlichen müssen im Haushalt mithelfen: kochen, aufräumen, putzen. Klappt das?

Manche Jungs aus konservativen Ländern tun sich am Anfang schwer. Sie sagen, in ihrer Kultur sei das Frauenarbeit.

Was sagen Sie dann?

Ich erkläre ihnen, dass in unserer Kultur Männer und Frauen das Gleiche machen. Dass das natürlich ungewohnt ist, dass man am Anfang nicht alles weiß, aber dass ich sie für sehr fit halte und dass ich sicher bin, dass sie es lernen werden.

Dann machen sie mit?

Ja. Sie sind sehr bereitwillig. Sie mussten in ihren Herkunftsländern meist sehr schnell erwachsen werden, dazuverdienen, für jüngere Geschwister sorgen, manchmal sogar die Stelle des Vaters einnehmen. Verglichen mit solchen Verantwortlichkeiten ist Kloputzen eine Kleinigkeit.

Sind Ihnen die Jugendlichen dankbar?

Wir erwarten keine Gegenleistung dafür, dass wir nett zu ihnen sind. Aber wenn wir einmal im Jahr dank eines Sponsors in die Berge fahren, sagen manche Jugendlichen: Das ist so toll, dass ich keine Bomben höre!


Jugendliche Flüchtlinge haben dieselben Rechte auf Förderung ihrer Ent­wicklung wie deutsche Jugendliche. So sagt es die UN-Kinderrechtskonvention. Doch es gibt noch keineswegs flächen­deckend geeignete Heime, die sich kümmern, sagt der Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchlinge e. V. (BUMF). In Deutschland sind vor allem Diakonie, Caritas und AWO Träger solcher Heime. 4200 jugend­liche unbegleitete Flüchtlinge wurden hier im vergangenen Jahr laut BUMF in Obhut genommen.

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